cash.ch: Sie haben kürzlich in einem Marktbericht geschrieben, dass der US-Aktienmarkt teuer ist. Woran machen Sie diese Aussage fest?

Saira Malik: Er ist teuer im Vergleich zum langfristigen Durchschnitt. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) des S&P 500 liegt mit 24 nur geringfügig über seinem 5-Jahresdurchschnitt von 22, aber es spiegelt nicht einmal eine bescheidene wirtschaftliche Kontraktion oder einen Rückgang der Unternehmensgewinne wider.

Kann die Aussicht tieferer Zinsen in den USA nicht höhere Bewertungen rechtfertigen?

Da die Aussicht auf niedrigere Zinssätze immer mehr in den Hintergrund rückt, wird der Übergang von einem vorsichtigen zu einem überzeugteren Optimismus von potenziellen Katalysatoren abhängen. Dazu gehören Gewinnwachstum, positive Gewinnrevisionen, zunehmende Marktbreite, zunehmende deflationäre Tendenzen, Lockerung der finanziellen Bedingungen inklusive eines Übergangs zu Zinssenkungen in der ersten Hälfte des Jahres 2024 und niedrigeren Kapitalkosten.

Fed-Chef Jerome Powell lässt den Zeitpunkt einer Zinssenkung weiter in der Schwebe. Was ist Ihre Zinsprognose?

Wir denken, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Zinssenkung im ersten Quartal gering ist und dass der viel erwartete Kurswechsel nicht vor Mitte des Jahres erfolgen wird. Die realen Zinssätze werden stabil bleiben. Wir gehen davon aus, dass die Zinssenkungen Mitte des Jahres oder später beginnen werden. Es wird wohl in diesem Jahr drei Zinssenkungen geben, da die Inflation hartnäckig bleibt und die deflationären Kräfte gering sind.

Wie ist die Stimmung an den Märkten?

Die jüngste Volatilität an den Märkten hat uns vor Augen geführt, wie zerbrechlich die derzeitige Hausse ist. Sie beruht grösstenteils auf übertriebenen Erwartungen in Bezug auf eine lockere Geldpolitik und die Zinssätze. Die ohnehin schon hohen Bewertungen tragen ebenfalls zur Volatilität bei, insbesondere bei den Mega-Cap-Technologiewerten, die seit Anfang November den Löwenanteil der Kursgewinne verbuchen konnten.

Die oftmals prognostizierte globale Rezession infolge der Inflationsbekämpfung ist bislang ausgeblieben...

Die wirtschaftliche Dynamik setzte sich fort, gestützt durch die Konsumenten-, Beschäftigungs- und expansiven Produktionsdaten. Der Konsumzyklus hat sich aufgrund der Pandemieanreize und der Niedrigzinsphase verlängert.

Was ist bei dieser doch überraschend positiven Entwicklung ausschlaggebend gewesen?

Die Gewinne scheinen ihre jüngste Rezession - viertes Quartal 2022 bis zweites Quartal 2023 - hinter sich zu lassen. Der Arbeitsmarkt ist weiterhin angespannt und das Konsumklima bleibt relativ robust. Zudem gab es ‹dovishe› Interpretationen der Fed-Sitzungen vom November und Dezember, die allerdings inzwischen verblasst sind.

Was bedeutet diese Ausgangslage für die Marktentwicklung der kommenden Monate?

In Anbetracht einiger Anzeichen einer Konjunkturabschwächung, der immer noch hohen Inflation und der geopolitischen Unsicherheit, halten wir an unserer insgesamt neutralen Haltung gegenüber Aktien fest.

Auf was sollten Anleger in dieser Marktlage setzen? Substanzaktien, Zykliker oder Wachstumswerte?

Wir legen den Schwerpunkt auf eine defensive Positionierung, indem wir ein breites Engagement in zyklischen Titeln reduzieren und uns auf Unternehmen mit gesunden Fundamentaldaten und starken freien Cashflows konzentrieren. Diese könnten es den Unternehmen ermöglichen, in einer Zeit des verlangsamten Wachstums und stabiler bis sinkender Zinssätze eine überdurchschnittliche Performance zu erzielen. Wir bevorzugen ein ausgewogenes Portfolio aus fundamental starken Wachstumswerten, gepaart mit nachlaufenden zyklischen Werten wie Grundstoffen und REITS, die von niedrigeren Energiepreisen beziehungsweise stabilen, niedrigen Zinsen profitieren werden.

Wachstumswerte sind in den USA letztes Jahr dank der Fantasie rund um den Megatrend Künstliche Intelligenz (KI) in die Höhe geschossen...

Wir erwarten eine stetige, schrittweise Einführung von KI in Geschäftsstrategien in einer Vielzahl von Branchen. Im Fokus dieser Bemühungen dürften Produktivitätssteigerungen und Ertragswachstum stehen. Wir gehen davon aus, dass die Outperformance der Technologiebranche geringer ausfallen wird als im vergangenen Jahr. Wir konzentrieren uns auf die Unternehmen, die Kostensenkungen vornehmen, um ihre Margen zu halten, und auf diejenigen, die durch die Verlagerung in die Cloud und auf KI ihre Erträge respektive Produktivität steigern.

Welche Megatrends werden dieses Jahr die Börsen dominieren?

Zu den Megatrends gehören die veränderten Risikoprofile und – aufgrund des bevorstehenden Vermögenstransfers über Generationen hinweg in Billionenhöhe – die Nachfrage jüngerer Anleger. Die Umstellung auf erneuerbare Energien wird die Nachfrage nach Rohstoffen, als wichtigste Inputs für Wind-, Solar- und Stromerzeugung, sowie die Nachfrage nach Infrastruktur erhöhen, da wir unsere Netze aufrüsten müssen. Die zunehmende Langlebigkeit der Weltbevölkerung wird ebenso die Anlegerziele verändern.

Nochmals: Was sind Ihre favorisierten Aktiensegmente für das Jahr 2024?

Wir bevorzugen REITs, börsenkotierte Infrastrukturaktien und Aktien mit hoher Marktkapitalisierung, insbesondere Dividendenwerte und hochwertige Wachstumswerte, sowie Aktien aus dem Technologiesektor wie Software und Halbleiter.

Bei welchen Aktien-Segmenten sehen Sie Gefahren?

Gefahren sehen wir bei zyklischen Aktienwerten, die vom Narrativ der ‹weichen Landung› profitiert haben. Ebenso bei entwickelten Märkten ausserhalb der USA. Die Aktien der Eurozone haben sich 2023 und insbesondere im vierten Quartal gut entwickelt. Dennoch stehen sie unter dem Druck einer entschlossenen EZB, eines unter dem Trend liegenden Wachstums in der Region sowie einer schwachen Nachfrage aus China, einem wichtigen Handelspartner. Unserer Ansicht nach wird Grossbritannien 2024 am ehesten in eine Rezession abrutschen. In Japan, das im vergangenen Jahr zu den Spitzenreitern gehörte, wurden die Aktien durch einen schwachen Yen und die Bemühungen der Tokioter Börse um eine bessere Unternehmensführung und Eigenkapitalrendite begünstigt. Obwohl es in Japan attraktive Möglichkeiten gibt, sind wir der Meinung, dass die ‹leichten Gewinne› gemacht wurden und die Anleger sich darauf konzentrieren müssen, Unternehmen zu finden, die eine aktionärsfreundliche Politik einleiten und davon profitieren können.

Was macht einen guten Dividendenwert aus?

Es sind qualitativ hochwertige Unternehmen mit starken freien Cashflows und vertretbaren Margen sowie Dividenden-Aristokraten, also Unternehmen, die ihre Dividenden seit 25 Jahren oder länger kontinuierlich steigern.

Schlussfrage: Was sind die drei grössten Fehler, die Investoren in Ihren Augen begehen können?

Sicherlich übermässige Erwartungen an eine lockere („dovishe“) Geldpolitik und sinkende Zinssätze zu haben. Auch sich zu stark auf die „Magnificent Seven“ zu fokussieren, denn diese sind anfällig für Rückschläge. Das aktuelle Umfeld sehen wir als zwingenden Grund, sich auf defensivere Marktbereiche zu konzentrieren, einschliesslich börsennotierter globaler Infrastrukturwerte. Und Bargeld zu halten, kann zu verpassten Chancen führen.

Saira Malik ist Anlagechefin von Nuveen und Mitglied des Senior Leadership Teams. In dieser Funktion ist sie für die wöchentlichen Markt- und Anlageeinblicke verantwortlich und liefert den Kunden Asset Allocation-Ansichten aus allen Anlageteams des Unternehmens. Sie leitet ausserdem das Global Investment Committee (GIC), in dem die führenden Investmentmanager von Nuveen zusammenkommen, um umsetzbare Ideen für die Portfolioallokation für Kunden zu entwickeln. Als Vorsitzende des GIC verfasst sie einen wöchentlichen Marktkommentar. Darüber hinaus ist Malik Portfoliomanagerin für Aktienstrategien im Umfang von über 100 Milliarden Dollar. Bevor sie zum CIO ernannt wurde, war sie Leiterin des globalen Aktienportfoliomanagements und Leiterin des globalen Aktienresearchs.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

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