«Das Streikgeschehen hat in den vergangenen Jahren tendenziell zugenommen, allerdings auf niedrigem Niveau», sagt Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Der Tarif-Experte beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Hagen Lesch, sieht in den Arbeitskämpfen die Fortsetzung eines Trends aus dem Vorjahr. «2023 wurde in Tarifverhandlungen gestritten wie noch nie.» Die Gründe dafür sehen Experten in den Reallohnverlusten und dem Fachkräftemangel, der die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer stärke.

Kaum hatten die Lokführer am 27. Januar nach mehrtägigem Arbeitskampf eine Streikpause bei der Deutschen Bahn bis Anfang März verkündet, legten bundesweit Beschäftigte den Betrieb im öffentlichen Nahverkehr für einen Tag lahm. Auf sie folgte das Bodenpersonal bei der Lufthansa, um mit einem eintägigen Warnstreik Druck für höhere Löhne zu machen.

Wird in Deutschland mehr gestreikt?

Gemessen an der Zahl der Arbeitstage, die dadurch ausfallen, gab es einen Anstieg. Das WSI-Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung kommt in der Arbeitskampfbilanz für 2022 auf 674.000 Arbeitstage, die durch Streiks ausgefallen seien. Das war der höchste Stand seit 2018, als der Arbeitskampf in der Metall- und Elektroindustrie dazu beitrug, dass über eine Million Arbeitstage ausfielen. Daten für 2023 veröffentlicht das Institut voraussichtlich erst im April.

Sind die Deutschen streiklustig?

Im internationalen Vergleich eher nicht. Wenn die arbeitskampfbedingten Ausfalltage pro 1000 Beschäftigte verglichen werden, liegt Deutschland laut WSI-Analyse im Mittelfeld. Im Durchschnitt der Jahre 2012 bis 2021 seien in Deutschland jährlich 18 Arbeitstage pro 1000 Beschäftigten streikbedingt ausgefallen. In Belgien waren es 96 und in Frankreich 92. In Deutschland dürfen nur Gewerkschaften Streiks organisieren, und das auch nur für Forderungen, die in Tarifverträgen geregelt werden können. Politische Streiks wie in Frankreich gegen die Rentenreform sind in Deutschland verboten.

Nehmen Tarifkonflikte an Schärfe zu?

IW-Experte Lesch bejaht dies. Sein Gradmesser dafür ist eine Eskalations-Skala. Die Verhandlungen von 20 ausgewählten Branchen seien 2023 eskaliert wie noch nie, sagt Lesch. Seine siebenstufige Skala von 0 für Verhandlungen am Tisch bis hin zu 7 für Streik und Aussperrung kommt für 2023 auf 3,0. «Das sind 0,8 Punkte mehr als im langjährigen Durchschnitt», so Lesch. «Der bisherige Höchstwert lag im Jahr 2015 bei 2,8.»

Verliert die Sozialpartnerschaft an Bedeutung?

«Ich sehe nicht, dass das Modell selbst zusammenbricht, aber die Rahmenbedingungen haben sich geändert», sagt IAB-Experte Weber. Arbeitskräfteknappheit etwa stärke die Gewerkschaften in ihrer Verhandlungsposition gegenüber Arbeitgebern. Sie wollten Reallohnverluste der vergangenen Jahre wettmachen: «Deshalb sehen wir im Moment ungewöhnlich hohe Lohnforderungen.»

Was haben Gewerkschaften von Streiks?

Streiks dienen Gewerkschaften auch zur Mitgliedergewinnung. Die Arbeitskämpfe etwa bei der Post und im öffentlichen Dienst 2023 haben der Gewerkschaft Verdi einen deutlichen Mitgliederzuwachs beschert, wie Gewerkschaftschef Frank Werneke am Jahresanfang sagte. Unter dem Strich habe Verdi 40.106 Mitglieder hinzugewonnen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) mit seinen acht Mitgliedsgewerkschaften legte erstmals seit vielen Jahren leicht auf gut 5,66 Millionen Mitglieder zu. Im Jahr 2003 waren es allerdings noch 7,36 Millionen gewesen.

Lässt der Ausblick weniger Streiks erwarten?

Die Experten sind skeptisch. Laut WSI wird es 2024 Tarifverhandlungen für etwa zwölf Millionen Beschäftigte geben. Darunter sind grosse Branchen wie das Bauhauptgewerbe, die Chemische Industrie und die Metall- und Elektroindustrie. Die Gewerkschaften stünden unter hohem Erwartungsdruck nach Jahren mit sinkenden oder stagnierenden Reallöhnen, schreibt Lesch in seiner Analyse. Hinzu komme, dass Gewerkschaften versuchten, durch Arbeitskampf Mitglieder zu gewinnen: «Insgesamt lässt diese Gemengelage befürchten, dass das Konfliktniveau auch 2024 hoch bleibt.»

Thorsten Schulten vom gewerkschaftsnahen WSI rechnet mit weiteren Streiks. «2024 wird es mehr Streiks geben als sonst», sagte Schulten der «Süddeutschen Zeitung». Die Arbeitnehmer hätten in vielen Branchen Nachholbedarf: «Nach Abzug der Inflation sind die Tariflöhne auf das Niveau des Jahres 2016 gefallen.» Laut Statistischem Bundesamt verloren die Reallöhne in den Jahren 2020 bis 2022 5,2 Prozent an Wert.

2023 könnten die Löhne mit der Inflation Schritt gehalten haben. «Bei der Reallohnentwicklung ist nach ersten offiziellen Angaben eine schwarze Null zu verzeichnen», sagt Lesch. Das WSI ist zurückhaltender und ging im Dezember von einem leichten realen Minus aus. Durch die Einmalwirkung von steuerfreien Inflationsprämien könnte es individuell aber besser aussehen.

(Reuters)