Die deutsche Wirtschaft befürchtet im kommenden Jahr eine zunehmende Abwanderung von Unternehmen. «Die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland hat schon begonnen», sagte der Präsident des Bundesverbandes Grosshandel, Aussenhandel, Dienstleistungen (BGA), Dirk Jandura, der Nachrichtenagentur Reuters. «Die Grossunternehmen verlagern, der Mittelstand leidet oder macht dicht. Das ist eine Bankrott-Erklärung für den Wirtschaftsstandort Deutschland.» Die Gründe dafür seien struktureller Natur, die Entwicklung daher absehbar. Abwandern würden vor allem energieintensive Branchen, also Chemie, Metall, auch der Maschinenbau. «Die Kosten hier sind einfach zu hoch», sagte Jandura.

Auch die Familienunternehmer befürchten den Weggang vieler Betriebe. «Wenn nach der Bundestagswahl nicht sofort die Wirtschaftswende eingeleitet wird, werden die Unternehmen verstärkt ins Ausland abwandern», sagte Verbandspräsidentin Marie-Christine Ostermann. «Besonders betroffen wären vom weiteren Stillstand die energieintensive Branchen und das verarbeitende Gewerbe, die bereits jetzt mit hohen Kosten und regulatorischen Hürden kämpfen.» Die Verluste an Arbeitsplätzen und beim Einkommen der Arbeitnehmer zögen dann alle Branchen runter, die vom Konsum abhängig seien.

«Viele Belastungen und Eingriffe»

Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) spricht von einer strukturellen Krise, weil entscheidende Rahmenbedingungen am Standort Deutschland nicht mehr wettbewerbsfähig seien. «Die Unternehmen hierzulande müssen in den letzten Jahren viele neue Belastungen und zu viele staatliche Eingriffe verkraften», sagte DIHK-Präsident Peter Adrian. «Ihr Vertrauen in den Standort ist daher auf einem Tiefpunkt.» Das zeige sich gerade bei den Investitionen, die in diesem Jahr etwa sechs Prozentpunkte unter dem Vor-Corona-Niveau lägen. «Und die Tendenz ist weiter fallend», betonte Jandura. Unter Bezug auf eine DIHK-Umfrage fügte er hinzu: «Ein Drittel der Unternehmen plant, seine Investitionen zu reduzieren. Das sind keine guten Aussichten für zukünftiges Wachstum.» Denn fast 90 Prozent der Investitionen erbringe in Deutschland die Privatwirtschaft.

«Wir müssen aufpassen, dass Deutschland sich nicht weiter nach hinten durchreicht», sagte Adrian. «Beim Wachstum sind wir Schlusslicht in Europa.» Für 2025 rechnet die DIHK mit Null-Wachstum. «Das wäre das dritte Jahr in Folge ohne realen Zuwachs unseres Bruttoinlandsproduktes – eine in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einmalige wirtschaftliche Durststrecke», sagte der DIHK-Präsident. Mit den richtigen Entscheidungen und einer Zeitenwende in der Wirtschaftspolitik bestünden aber die Chance, auf einen guten Wachstumspfad zu kommen.

«Unsere Infrastruktur ist von gestern»

Der Digitalverband Bitkom fordert dafür ein Umsteuern durch die Politik. «Um Unternehmen zu halten und Investitionen anzuregen, braucht es gezielte politische Massnahmen», sagte Bitkom-Präsident Ralf Wintergerst. Dazu zählten der Abbau von Bürokratie und die Digitalisierung der Verwaltungen inklusive der Schaffung digitaler Identitäten für juristische Personen. «Auch brauchen wir Massnahmen gegen den IT-Fachkräftemangel und einen Abbau der überbordenden Regulierungen.» Die im internationalen Vergleich sehr hohen Energiepreise schreckten insbesondere energieintensive Unternehmen wie beispielsweise Rechenzentren ab. «Dabei brauchen wir sie dringend für eine verlässliche und sichere digitale Infrastruktur», sagte Wintergerst. «Alles in allem brauchen wir einen digitalpolitischen Boost.»

Der BGA sieht Wettbewerbsnachteile durch hohe Energiepreise, Unternehmenssteuersätze und Arbeitskosten. «Und zugleich müssen Sie als Lkw-Fahrer ein mulmiges Gefühl haben, wenn Sie eine deutsche Brücke überfahren», sagte BGA-Präsident Jandura. «Unsere Infrastruktur ist nicht für morgen, sondern von gestern.»

(Reuters)