Wann gab es zuletzt seine solche tiefe Arbeitslosigkeit?

Boris Zürcher: Da war vor 22 Jahren der Fall, also im Februar 2001, als sie bei 1,8 Prozent lag.

Sind dafür jetzt die Leute in den Regionalvermittlungsämtern (RAV) arbeitslos?

Das nicht, aber man kann schon sagen, dass der Arbeitsmarkt angespannt ist – in einem positiven Sinn.

Profitieren auch ältere Arbeitnehmende von diesem Trend?

Ja, in den Zahlen sehen wir, dass die Zahl der Arbeitslosen unter den über Fünfzigjährigen gesunken ist. Ende Februar waren schweizweit noch rund 29’000 über Fünfzigjährige arbeitslos gemeldet. Die Arbeitslosigkeit dieser Generation liegt bei 2.1 Prozent und ist damit gleich hoch wie im Januar und auch gleich hoch wie der Durchschnitt. Vor einem Jahr betrug sie 2,6 Prozent.

Die Älteren sind also nicht benachteiligt?

Medienberichte, wonach ältere Arbeitnehmende bei Restrukturierungen "aussortiert" werden, können wir statistisch nicht erhärten. Was weiterhin stimmt, ist, dass ältere Arbeitslose länger brauchen, bis sie wieder eine neue Stelle finden. Auch deshalb erhalten sie länger Arbeitslosengelder als jüngere Arbeitslose.

Der «oberste Chef» beim Bund über den Arbeitsmarkt

Boris Zürcher ist beim Bund so etwas wie der oberste Chef für Arbeitsmarktthemen. Er leitet beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) die Direktion für Arbeit. Seit zehn Jahren ist er in dieser Funktion. Seine Karriere begann er einst mit einer Lehre als Maschinenzeichner. Später absolvierte er eine berufsbegleitende Matura und studierte Volkswirtschaft und Soziologie an der Uni Bern. Seit 2003 ist er dort Lehrbeauftragter. Breit bekannt wurde er als Leiter der Denkfabrik Avenir Suisse.

Die Kehrseite der tiefen Arbeitslosigkeit ist, dass Firmen grosse Schwierigkeiten haben, frische Arbeitskräfte zu finden. Was zeigen die Zahlen?

Die Zahl der bei RAV gemeldeten offenen Stellen ist rekordhoch: Rund 55’000 Jobs waren zuletzt ausgeschrieben. Gemäss Bundesamt für Statistik sind sogar über 100’000 Stellen nicht besetzt. Gesucht sind Leute vor allem für Vollzeitstellen, nämlich rund 46’000.

"Die gegenwärtig gute Situation verschafft auch Leuten eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt, die sonst eher Schwierigkeiten hätten."

Boris Zürcher, Seco

Welches Gefühl - Freude oder Sorge - überwiegt bei Ihnen in Anbetracht dieser Arbeitsmarktlage?

Die gegenwärtig gute Situation verschafft auch Leuten eine Rückkehr in den Arbeitsmarkt, die sonst eher Schwierigkeiten hätten. Die Freude überwiegt sicher. Längerfristig muss man sich indes fragen, wie nachhaltig der aktuelle Boom ist.  

Wie erklären Sie sich die geringe Arbeitslosigkeit im Kontext der Konjunktur? Nachholeffekte? Pensionierte Babyboomer? Eine Megakonjunktur?

Das spielen mehrere Effekte hinein. Ja, ein Teil der raschen Absorption der Arbeitskräfte ist dem Nachholeffekt nach der Pandemie geschuldet. Tausende waren in der Kurzarbeit. Dann wurden die Pandemiemassnahmen auf einen Schlag aufgehoben. Viele Firmen stellten fast gleichzeitig viele Leute an. Ein zweiter Teil ist mit der hohen Zahl der in Pension gehenden Menschen zu erklären. Die Zahl der Neueintritte in den Arbeitsmarkt und die Zahl der Austritte durch Pensionierungen hält sich die Waage. Das war früher anders. Nur die Zuwanderung von netto rund 40’000 Arbeitskräften hat dem Arbeitsmarkt etwas frische Luft zugeführt. Ein dritter Teil ist etwas spekulativ, aber ich halte die Erklärung für realistisch: Die rekordtiefen Zinsen der Nationalbanken haben weltweit für viel Investitionen gesorgt. Viele Leute wurden für neue Projekte angestellt. Dies hat in zahlreichen Westländern zu einem Boom im Arbeitsmarkt geführt. Ich halte es für wahrscheinlich, dass die Tiefzinspolitik auch in der Schweiz die Beschäftigung deutlich ankurbelt.

Und die Schilderungen, dass sich eine ganze Generation freiwillig aus dem Arbeitsmarkt abgemeldet habe, sind die richtig? Die Erklärung ist den USA en vogue.

Dass sich eine Generation freiwillig aus dem Arbeitsmarkt abgemeldet habe, sehen wir nicht in den Zahlen. Nein, in der Schweiz gibt es das nicht.

Die Arbeitslosigkeit der Ausländer ist höher

Derzeit wird viel über die Einwanderung gesprochen. Der Unterschied der Arbeitslosenquoten zwischen Schweizer Staatsangehörigen und Ausländern ist erheblich. Unter Schweizer Staatsangehörigen beträgt die Arbeitslosenquote derzeit 1,4 Prozent, unter Ausländerinnen und Ausländern 4 Prozent. Wie erklärt sich das? Boris Zürcher: "Ausländische Arbeitskräfte sind traditionell in Branchen mit einer höheren Konjunktursensitivität und Saisonalität vertreten, was wesentlich das höhere Arbeitslosigkeitsrisiko erklärt".

Dieser Artikel erschien zuerst auf Handelszeitung.ch unter folgendem Titel: "Die Chance für Leute, die sonst eher Schwierigkeiten hätten"