cash.ch: Herr Jost, Sie gehören zu den eher sendungsbewussten Ökonomen und stechen immer wieder mit pointierten Äusserungen hervor. Woher kommt diese Haltung?

Adriel Jost: Ich glaube, man sticht bereits aus der Menge heraus, wenn man nicht nur wiederholt, was andere schon sagten, sondern selbst auf die Daten schaut und daraus eigene Schlüsse zieht. Zudem liegt mir die Schweiz am Herzen. Ich setze mich in meiner Rolle als unabhängiger Beobachter gerne für eine gute Politik und eine erfolgreiche Wirtschaft ein.

Wie fallen die Reaktionen auf Ihre Standpunkte aus?

Ich bemühe mich, möglichst konstruktiv zur Diskussion beizutragen und zum Beispiel auf Personen bezogene Bemerkungen zu verzichten. Die Rückmeldungen zeigen im Grossen und Ganzen, dass mir das gelingt.

Bei der Schweizerischen Nationalbank (SNB), für die Sie früher gearbeitet haben, hat ist es jüngst zur einer Ankündigung eines Wechsels an der Spitze gekommen. Was halten Sie von der Wahl Martin Schlegels zum neuen Präsidenten?

Ich fokussiere mich auf die inhaltlichen Fragen äussere mich zu Personalfragen, wie erwähnt, grundsätzlich nicht. Die Herausforderungen der SNB sind gross. Wichtig ist die Debatte zu führen, wie die Geldpolitik in Zukunft sinnvoll geführt werden kann.

In einer Ihrer aktuellen Publikationen werfen Sie den Zentralbanken, auch der SNB, Mikromanagement vor. Worauf zielen Sie ab?

Den Zentralbanken ist es gelungen, die Inflation seit den 1990er-Jahren niedrig zu halten. Dieser Erfolg ist ihnen in den Kopf gestiegen. Sie verfielen der Auffassung, die Wirtschaft immer noch genauer steuern zu können. Einerseits haben sie - mit der löblichen Ausnahme der SNB - das Inflationsziel auf genau zwei Prozent eingeengt, andererseits haben sie zunehmend versucht, Konjunkturschwankungen zu verhindern.

Was ist falsch an diesem Ansatz?

Ganz grundsätzlich gesagt: Eine solche Feinsteuerung von Inflation und Konjunktur ist gar nicht möglich. Millionen von Menschen und Unternehmen treffen Tag für Tag Kauf- und Investitionsentscheidungen. Die Preise punktgenau steuern zu wollen, ist schlicht eine Überforderung. Zudem neigen die Zentralbanken bei einem solchen Ansatz dazu, zu grosszügig zu sein, weil sie Rezessionen vermeiden und in Krisen für einen raschen Aufschwung sorgen wollen. Doch werden mit diesen grosszügigen Massnahmen bereits wieder die Grundlagen der nächsten Krise gelegt.

Warum begünstigt eine grosszügige Notenbankpolitik Krisen?

Dies zeigt sich immer wieder, zum Beispiel, indem tiefe Zinsen den Grundstein für Schuldenblasen legen oder es der Kauf von Staatsanleihen den Staaten ermöglicht, die Haushaltsdisziplin zu ignorieren. Steigen die Inflationsraten zudem wie nach der Coronakrise, besteht die Gefahr, dass die von den Zentralbanken als Gegenmassnahmen erhöhten Zinsen die nächste Rezession auslösen.

Sie sprachen von einer gewissen Überforderung der Zentralbanken und von der Unmöglichkeit einer Feinsteuerung. Doch welches Alternativkonzept sehen Sie?

Die SNB - und andere Notenbanken - sollten sich auf den langfristigen Erhalt der Kaufkraft ihrer Währungen konzentrieren. Auf ein kurzfristiges Konjunkturmanagement sollten sie dafür weitgehend verzichten. Dies auch schon deshalb, weil die dazu benötigten kurzfristigen Wirtschaftsprognosen ohnehin selten bis gar nie eintreffen. Das Augenmerk sollte auf langfristigen Indikatoren wie dem Trendwachstum und dem Geldmengenwachstum liegen.

Weshalb soll dadurch die Geldpolitik besser werden, als sie heute ist?

Einerseits werden Zentralbanken, wenn sie sich langfristig orientieren, weniger aktivistisch handeln – und damit den Erhalt der Kaufkraft besser garantieren können. Andererseits ist besser prognostizierbar, was im Durchschnitt der nächsten zehn Jahren geschieht, als vorherzusagen, was nächsten Sommer passiert.

Letzteres widerspricht der Intuition. Warum trifft es dennoch zu?

Man kann es mit dem persönlichen Leben vergleichen. Ich weiss, wo ich diesen Sommer meine Ferien verbringen werde, und ich weiss, dass ich in den nächsten zehn Jahren regelmässig in die Ferien verreise. Aber ob und wo genau ich nächstes Jahr hinfahre, weiss ich jetzt noch nicht. Vielleicht kann ich auch gar nicht verreisen, weil eine neue Pandemie auftritt.

Was bedeutet dieses Beispiel übertragen auf die Wirtschaft?

Was in den nächsten zwei bis drei Monaten wirtschaftlich geschieht, ist recht gut vorhersehbar. Firmen erhalten Aufträge und arbeiten sie ab. Die durchschnittliche Wirtschaftsleistung der kommenden Dekade ist ebenfalls gut prognostizierbar, weil bekannt ist, wie viele Arbeitskräfte und Maschinen es geben wird - solche strukturellen Grössen entwickeln sich kontinuierlich. Nicht absehbar ist hingegen, ob in einem oder in zwei Jahren ein Schock zu einer Rezession führt. Ähnlich verhält es sich mit der Inflation: Auf einen Zeithorizont von 3 Jahren ist sie unmöglich zu bestimmen, Aussagen über das Inflationspotenzial des nächsten Jahrzehnts lassen die Geldmengen aber zu.

Wie wirksam kann eine Geldpolitik überhaupt sein, wenn sie so weit in die Zukunft gerichtet ist, dass sie sich von Konjunkturzyklen löst?

Die Geldpolitik muss sich auf den langfristigen Erhalt der Kaufkraft kümmern. Das ist schon anspruchsvoll genug. Klar, die Zentralbanken können sich kurzfristig auch gezwungen sehen, Banken zu retten oder die Regierungen zu finanzieren. Bezüglich Geldpolitik ist es aber eine Art Lebenslüge der Zentralbanken, dass sich ihr Hauptinstrument, die Zinsen, über einen Zeithorizont von mindestens ein bis drei Jahre auswirkt – die Zentralbanken zum Zeitpunkt des Zinsentscheids aber gar nicht wissen können, welche Unterstützung die Wirtschaft in dieser Phase brauchen wird.

Hätten die Notenbanken den Inflationsanstieg im Anschluss an die Coronakrise Ihrer Meinung nach verhindern können, wenn sie weitsichtiger gehandelt hätte?

Die Zentralbanken verschliefen, dass die Nachfrage aufgrund der sehr grosszügigen Fiskalpolitik schon sehr rasch wieder deutlich angezogen hatte und so die Inflation antrieb. Sie blieben unterstützend, obwohl eine Betrachtung der Geldmengen auf dieses Inflationspotenzial tatsächlich aufmerksam gemacht hätte. Die Inflation wäre angesichts der fiskalpolitischen Massnahmen aber nicht komplett zu verhindern gewesen. Übertreibt es die Fiskalpolitik, sind Zentralbanken im Seitenwagen und müssen wohl oder übel mitspielen.

Glättet eine langfristig ausgerichtete Geldpolitik die Konjunktur, sodass es auf Dauer weder besonders gute noch besonders schlechte Jahre gibt?

Kreditzyklen gäbe es in der Tat weniger. Externe Schocks wie Pandemien oder geopolitische Konflikte könnten aber natürlich trotzdem Rezessionen verursachen. Eine kurzfristig weniger unterstützende Geldpolitik würde zu einer tieferen Inflation nach der Krise und zugleich einem weniger starken Aufschwung führen. Das ist zugegebenermassen eine schwierige Abwägung. Wichtiger bleibt in der Krise aber sowieso das Verhalten der Fiskalpolitik.

Inwiefern würde eine auf lange Sicht angelegte Geldpolitik den Devisenmarktinterventionen - gerade der SNB - entgegenstehen?

Devisenmarktinterventionen sind ein Werkzeug der SNB, um extreme Wechselkursschwankungen abzuschwächen. Das Problem dabei ist: Mit den Devisenmarktinterventionen monetarisiert die Nationalbank Staatsschulden anderer Länder. Noch hat sich dies nicht auf die Inflation ausgewirkt. Das dürfte sich ändern, wenn die Schuldenlast in den anderen Ländern hoch bleibt.

Wie das?

Wollen wir den Wechselkurs einigermassen stabil halten, werden wir faktisch die Fiskal- und Geldpolitik anderer Länder in die SNB-Bilanz importieren müssen - inklusive der Risiken, die eine Monetarisierung einer nicht nachhaltigen Überschuldung mit sich bringen. Das schwächt die Glaubwürdigkeit der Nationalbank und damit die Schweizer Währung. Dieses Szenario kann man abwenden, muss dann aber vermehrt auf ein kurzfristiges Konjunkturmanagement verzichten und einen stärkeren Franken in Kauf nehmen - mit Folgen für die Exportindustrie.

Die Inflationsrate liegt seit letztem Sommer wieder in der Wohlfühlzone der SNB. Für manche kam der Rückgang überraschend. Was hat dazu geführt?

Auch in den USA und in der Eurozone sind die Inflationsraten stark zurückgekommen. Zum einen hat sich die Nachfrage aufgrund der geringeren Unterstützung durch die Fiskalpolitik normalisiert, zum anderen sind die Energiepreise gesunken. Geholfen hat speziell in der Schweiz auch, dass die Lohnabschlüsse moderat und Zweitrundeneffekte weniger stark als erwartet ausfielen. Die Zentralbanken haben mit ihren späten, aber energischen Reaktionen dafür gesorgt, dass sie ihre Glaubwürdigkeit nochmals retten konnten. Allerdings ist eine Grundsicherheit verloren gegangen.

Welche Grundsicherheit meinen Sie?

Dass Zentralbanken und die Regierungen in einer nächsten Krise alle nur erdenklichen Möglichkeiten nutzen werden, um die Wirtschaft zu unterstützen. Rückblickend wissen wir, dass ihre sehr expansive Geldpolitik und ihre Finanzierung der grosszügigen Fiskalpolitik den jüngsten Inflationsanstieg ermöglicht hat. Die Wirtschaftsakteure werden nun davon ausgehen, dass eine solche Politik Kosten hat, die sie tragen müssen.

Was folgt daraus?

Die Konjunkturpolitik wird wohl weniger effektiv sein, da ein massives Eingreifen von Fiskal- und Geldpolitik auch Verunsicherung auslösen wird und die Inflationserwartungen erhöhen kann. Deshalb wird die nächste Krise spannend.

Wird die Inflation bei normalem Lauf der Dinge unter zwei Prozent bleiben - so, wie die SNB dies für die Zeit bis 2026 prognostiziert?

Das lässt sich nicht sagen - sicher scheint nur, dass die Dinge kaum «normal» verlaufen werden und auch die SNB ihre Inflationsprognosen wieder anpassen wird. Global betrachtet ist gemessen an den Geldmengen das Inflationspotenzial aktuell mehr oder weniger ausgeschöpft, es lassen sich darum auch basierend auf diesen Indikatoren keine klaren Aussagen machen.

Inwiefern gibt es Raum für eine nächste Zinssenkung durch die SNB?

Die SNB orientiert sich aktuell an einem neutralen Zinssatz, bei dem sie weder expansiv noch restriktiv ist. Nur: Wie hoch dieser neutrale Zinssatz ist, lässt sich ebenfalls nicht so einfach bestimmen. Und sich daran zu orientieren, ist «bemerkenswert anspruchsvoll», wie es die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich jüngst vorsichtig formuliert hat. Folglich ist es schwierig zu sagen, was die SNB machen wird.

Mit Blick in die USA wird seit Monaten über eine Zinssenkung diskutiert - die nun frühestens im September Tatsache werden dürfte. Was denken Sie?

Die Diskussion um die Zinssenkung in den USA zeugt von der Konzeptlosigkeit der US-Notenbank Federal Reserve. Der Fed ist bewusst, dass ihrer Wirtschaftsprognose kaum trauen ist. Sie schaut darum aktuell hauptsächlich auf die jüngsten Inflations- und Arbeitsmarktdaten. Doch diese viel zitierte «Data dependence/Datenabhängigkeit» ist ein Blick in den Rückspiegel - der beim Vorwärtsfahren nicht hilft. Darum ist es auch hier schwierig, eine Prognose zu ihren Zinsentscheiden zu machen.

Adriel Jost ist Ökonom, Fellow am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern und Lehrbeauftragter an der Universität St. Gallen. Zudem schreibt er Kolumnen und tritt regelmässig in Medien auf. In seiner bisherigen Laufbahn arbeitete er unter anderem für die Schweizerische Nationalbank und für die Wirtschaftsberatungsfirma Wellershoff & Partners. Jost verfügt über eine Doktortitel der Universität St. Gallen.