Daniel Morris, 2022 war für Portfolio-Manager ein Jahr zum Vergessen: Anleihen und Aktien verloren an Wert. Sehen Sie das auch so?
Daniel Morris: Ja, das war es tatsächlich. Allein der Dollar hat 2022 funktioniert.
Wie schätzen Sie die Entwicklung in den kommenden Monaten bis zum Jahresende ein?
Alles beginnt mit Bonds, also Anleihen. Doch betrachten wir zuerst einmal den Aktienmarkt: Eigentlich sollte man mit Aktien etwas verdienen. Doch die Volatilität war in diesem Jahr bei Aktien hoch, nicht zuletzt wegen des anhaltend hohen Zinsniveaus. Die hohen Zinsen der Treasuries (Staatsanleihen) haben alle sehr überrascht. Ich kenne jedenfalls niemanden, der im Juli schon gesagt hat: Die US-Staatsanleihen stehen bald bei 5 Prozent. Es kann eben niemand die Zukunft voraussagen. Wenn man aber den Grund für die hohen Renditen bei US-Staatsanleihen kennt, lässt sich daraus eine mögliche, zukünftige Entwicklung ablesen. Entsprechend richten wir bei BNPP anschliessend unser Marktverhalten aus.
Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?
Entscheidend werden nicht nur die Inflation, sondern auch die Staatsverschuldungen sein. Fitch stufte die Kreditwürdigkeit der USA am 1. August 2023 von AAA auf AA+ herab. Das war zwar nicht der Ursprung des Problems, doch Fitch brachte das richtige Thema zur rechten Zeit aufs Tapet.
Warum ist dieses Thema so wichtig?
Eine Verschuldung von um die 122 Prozent des BIP, wie in den USA, ist wirklich sehr hoch, so wie das Haushaltsdefizit. Auch hier in Europa steigen die Spreads, etwa in Italien, Frankreich, Spanien oder dem Vereinigten Königreich. Doch wenn Sie mich fragen: Was ist der richtige Anteil an Staatsanleihen? So fällt meine Antwort zwiespältig aus. Einerseits gehen wir davon aus, dass die Zinsen von nun an sinken werden. Also übergewichten wir die Bonds (Anleihen) bei BNPP gegenwärtig. Andererseits sind wir aber keineswegs vollkommen sicher, dass die Leitzinsen sinken werden, denn es gibt durchaus Gründe, die das Zinsniveau weiter steigen lassen könnten.
Viele Experten in der Schweiz glauben an sinkende Zinsen im Verlauf des kommenden Jahres. Ich zweifle daran, nicht zuletzt aufgrund der noch hohen Inflation in weiten Teilen der führenden Wirtschaftsnationen, der Krise in China, der Kriege in der Ukraine und Israel, und der damit einhergehenden Verunsicherung. Rechnen Sie persönlich mit einem sinkenden Zinsniveau?
Was die Inflation angeht, bin ich optimistisch. Sie wird wohl sinken. Wir haben ja schon einen gewissen Weg hinter uns: von rund 8 Prozent 2022 auf heute etwas über 4 Prozent in den USA. Die Teuerung sollte gemäss unserer Einschätzung weiter abnehmen. Wir glauben, sie könnte bis auf etwa 2 Prozent zu stehen kommen. Es kann aber auch sein, dass wir bei 3 Prozent hängen bleiben – nicht zuletzt auch wegen hoher Staatsverschuldungen.
Und was bedeutet das alles für den Aktienmarkt?
Das hängt davon ab, warum die Zinsen sinken. In den letzten Monaten litten die Kurse. Doch es gibt unterschiedliche Gründe, warum das so ist. Schwaches Wachstum kann ein Grund sein, aber auch wenig Aussicht auf Wertsteigerungen.
Der Bond-Markt verspricht wieder mehr Rendite als noch vor zwei Jahren. In Erwartung eines tieferen Zinsniveaus wäre wohl jetzt ein guter Zeitpunkt zum Einstieg.
Das ist die gute Nachricht. Deshalb übergewichten wir bei BNPP Anleihen Bonds auch. Vor zwei Jahren war die Situation noch komplett anders. Sparer bekamen keinen Zins. Natürlich wussten wir damals, dass die Situation mit den extrem niedrigen Zinsen alles andere als normal war. Doch was nützte das? So schwierig die letzten zwei Jahre auch waren, sind wir nun an einem wesentlich besseren Punkt angelangt: Heute haben wir wieder (Daniel Morris zeichnet zwei Gänsefüsschen in die Luft, Red.) ein «normales», «vernünftiges» Zinsniveau.
Würden Sie Portfolio-Managern raten, ihre Positionen auf dem Anleihemarkt auszubauen?
Ich kann Ihnen nur sagen, was wir bei BNPP machen: Wir übergewichten Anleihen und untergewichten Aktien, besonders europäische Aktien.
Wieso genau europäische Aktien?
Europa erscheint uns verglichen mit den anderen Märkten wie zum Beispiel China, Japan oder den USA weniger attraktiv zu sein. Wir haben in Europa ein sehr kleines Wachstum.
Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe?
Zunächst kam in den letzten eineinhalb Jahren ein enormer Zinsanstieg, zusätzlich stiegen die Kosten, nicht zuletzt auch wegen des Energieschocks bei Öl und Gas. Hinzu kommen geopolitische Verwerfungen: die Kriege in der Ukraine und Israel. Da ist Europa näher dran als etwa die USA. Europa hat viele schlechte Faktoren zu verdauen.
Anderen Wirtschaftsregionen ging es da besser?
Ja. In den USA spielten einige gute Faktoren mit: Etwa die massiven Fiskalmassnahmen mit rund 1,9 Billionen Dollar, der Inflation Reduction Act, der viele Investitionen auch von Privaten und Unternehmen auslöste. Das hat die US-Wirtschaft angekurbelt. Momentan liegt das Wachstum in den USA bei 2,5 Prozent, in Europa bei nahezu 0 Prozent.
Also spielt die Musik in den USA?
Nur die allerwenigsten Dinge im Leben sind kostenlos. Für das Wachstum zahlt die USA momentan einen Preis: hohe Leitzinsen. Ohne all diese stimulierenden Massnahmen in den USA läge der Leitzins sehr wahrscheinlich wesentlich niedriger. Schlecht für Europa ist der «spill-over», das über den Teich schwappende hohe Zinsniveau. Denn der Zinsanstieg in den USA führte auch zu einem Zinsanstieg in Europa. In der EU leiden Unternehmen derzeit unter hohen Zinsen, doch die stimulierende Wirkung von Stabilisierungsprogrammen wie in den USA entfällt.
Noch ein Wort zur Bedeutung von Rohstoffen: ETF oder Einzeltitel?
Das kommt ganz drauf an. Hier muss man ganz genau draufschauen und individuell abklären.
Sind momentan weitere Investments in Rohstoffe sinnvoll?
Wir bei BNPP gewichten die Rohstoffanlagen momentan «neutral». Wir erwarten ein verlangsamtes Wirtschaftswachstum. Und das dürfte, nein, das sollte auch eintreten, denn die Inflation muss runterkommen. 2,5 Prozent Wachstum, wie wir es gegenwärtig in den USA haben, ist einfach zu viel. Um die Inflation zu bannen, muss das Wachstum wesentlich kleiner sein. Die verzwickte, grosse Frage ist nun: Wie weit wird sich das Wachstum verlangsamen? Kommen wir nahe 0 Prozent zu stehen, oder sinkt es sogar unter 0? Das würde ja dann eine Rezession bedeuten.
Was erwarten Sie?
Für die EU rechnen wir mit rund zwei Quartalen leichter Rezession bei rund -0.1 Prozent. Mehr nicht. Es sollte also nicht allzu schlimm sein. Das bedeutet, um auf Ihre ursprüngliche Frage zurückzukommen, auch weniger Nachfrage nach Rohstoffen. Auf lange Sicht ist bei Rohstoffen die Transformation der Weltwirtschaft, Stichwort Dekarbonisierung, zu berücksichtigen. Einerseits wird weniger Erdöl gefördert, andererseits auch weniger verbraucht. Beides wird sich in etwa die Waage halten, sodass die Preise stabil bleiben sollten. Neue Chancen im Rohstoff-Sektor ergeben sich durch die Umstellung auf E-Autos. Nun werden andere Rohstoffe attraktiv, doch all diese Entwicklungen sind schwer abzuschätzen. Aus diesem Grund haben wir bei BNPP punkto Rohstoffe eine neutrale Haltung eingenommen.
Dieser Artikel erschien zuerst in bei Handelszeitung.ch unter dem Titel: "«Für das Wachstum zahlen die USA einen Preis: hohe Leitzinsen»"