cash.ch: Herr Quest, mit Blick auf die Teilnehmerliste der Top-Politiker am WEF 2023 sehen sich Kritiker darin bestätigt, dass das WEF zunehmend an Bedeutung verliert. Einverstanden?
Richard Quest: Ich glaube, das WEF unterliegt generell Zyklen. Es ist derzeit sehr in Mode, den Tod des WEF zu prognostizieren. Aber wir müssen die Sache genauer anschauen: Sind nun weniger Politiker und Rock Stars am WEF? Vielleicht. Aber die CEOs sind immer noch da. Und eine andere Gruppe ist zunehmend präsent: Personen, die den Umweltschutz vorantreiben, Leute, welche sich für Themen wie Erziehung und Gesundheit einsetzen.
Sind die sozialen Themen zentral am WEF 2023?
Klar sind Russland und China zentrale Themen. Aber das Hauptthema, das überall hinein spielt, ist das Klima und die verschiedenen Ausprägungen: Klima und Erziehung. Klima und Energiekrise. Und so weiter.
Das WEF lebte lange Zeit auch kommerziell davon, alle Nationen in einer globalisierten, idealisierten Welt zusammenzubringen. Nun leben wir in einer polarisierten Welt mit den liberalen Demokratien auf der einen und Diktaturen wie Russland und China auf der anderen Seite…
Da müssen wir Klartext reden. Das WEF glaubte im übertragenen Sinn lange, die Erde sei eine Scheibe, um nun festzustellen, dass sie eine Kugel ist. Das WEF ermutigte uns jahrzehntelang daran zu glauben, dass der russische Bär das 'Neverland' sei und China Teil des globalen Trading Deals. Nun wurden dem WEF auf eine brutale Weise die Scheuklappen entfernt. Ich bin mir nicht sicher, ob sich die Organisation mit dieser neuen Situation schon zurechtgefunden hat.
Das letzte WEF im Mai 2022 stand ganz im Zeichen des Angriffs von Russland auf die Ukraine. Nun dauert der Krieg schon fast ein Jahr. Was sagt Ihr Bauchgefühl, wie lange der Krieg noch dauern könnte?
Nur ein Verrückter würde hier eine Prognose machen. Ich hoffte, der Krieg könnte schon heute Abend zu Ende sein. Leider glaubt niemand daran. Ich kann es einfach immer noch nicht fassen, dass in einem derart grossen Land in Europa eine Schlacht in dieser Dimension ausgetragen wird.
In Moskau sitzt eine faschistische Regierung an der Macht, welche mit militärischen Mitteln alte Grenzen in Europa wiederherstellen will. Sollte der Westen der Ukraine nicht mehr Waffen liefern?
Wie soll das alles gehen? Das tönt sehr einfach, wie Sie das vorgeschlagen haben. Vergessen Sie nicht, dass Russland Nuklearwaffen hat. Und Indien kauft noch immer russisches Öl, auch China kauft noch immer russisches Öl. Und wenn in China die Wirtschaft wieder richtig anläuft, wird der Bedarf nach anderen Ölquellen und Gas noch grösser. Das heisst: Die Quellen, die wir nun als Ersatz für russische Rohwaren suchen, werden ihrerseits knapp. Das wird alles sehr kompliziert und nichts für Zaghafte.
Die Zeichen in China stehen nach einer bizarren Covid-Politik wieder auf Wachstum: Wie sehr wird dies die Weltwirtschaft beflügeln in diesem Jahr?
Chinas Wirtschaft war für eines oder für zwei Quartale rückläufig, aber sie wird an Schwung gewinnen. China hat mit seiner Covid-Politik genau das Gegenteil davon gemacht, wie uns beigebracht wurde, die Pandemie zu bewältigen: Man wollte das Virus um jeden Preis vom Land fernhalten und die Zahl der Ansteckungen auf Null bringen. Man hat wenig oder gar nicht geimpft, vor allem nicht die gefährdeten Leute. Eine genügende Herdenimmunität wurde nie herreicht. Und dann auf einen Schlag diese massenweise Öffnung. Good Luck.
Wir durchschreiten eine Phase von Zinserhöhungen. Wie stark wird die Wirtschaft darunter leiden?
Wir sehen derzeit einen seltenen Aspekt in einem Wirtschaftsabschwungs: Die Löhne und die Zahl der Beschäftigten bleiben auf eine unrealistische Weise hoch. Das mag okay sein, sollte dies so weitergehen. Die letzten neun Monate waren gekennzeichnet von einer heftigen Phase von Zinserhöhungen durch die Fed. Die Auswirkungen der geldpolitischen Massnahmen treten in der Regel erst nach sechs bis neun Monaten ein. Wird das nun einfach so vorbeiziehen wie ein Expresszug? Wir wissen es nicht. Aber ich sage Ihnen etwas: Meiner Ansicht nach ist der Unterschied zwischen 0,4 Prozent Wirtschaftswachstum oder 0,4 Prozent Wirtschaftsrückgang nicht gross. Aber für all die Beteiligten wird sich ein solcher Unterschied ziemlich beschissen anfühlen.
1 Kommentar
Erfrischend - auch ernüchternd - klar diese Stellungnahme von Quest.
Erfreulich auch, dass diesmal auf die Allgemeinplätze und Mainstream-Meinungen von Sandra Navidi verzichter wurde...