«Ein Mann, ein Wort», ruft Mario Voigt begeistert, als der Unions-Kanzlerkandidat endlich um 21.30 Uhr das fast volle Congress Centrum in Erfurt betritt. Thüringens Ministerpräsident will damit gar nicht auf den Streit um einen möglichen Wortbruch von Friedrich Merz bei Abstimmungen mit der AfD im Bundestag anspielen.
Merz habe vielmehr die Zusage gehalten, dass er sich trotz eines erbitterten Schlagabtauschs im Bundestag, drei Sondersitzungen der CDU/CSU-Fraktion und einer Abstimmungsniederlage bei einem Migrations-Gesetzentwurf der Union noch auf den Weg in die thüringische Hauptstadt gemacht hat, um eine CDU-Wahlkampfveranstaltung zu besuchen.
Warum Merz das so wichtig ist, wird schnell klar. Denn das Bad im Kreis freundlicher, ihm zustimmender Anhänger wirkt wie eine Therapie nach dem turbulenten, harten Schlagabtausch im Bundestag, bei dem sich Merz mehrfach anhören musste, ihm fehle das Format zum Kanzler und er breche sein Wort. Der CDU-Vorsitzende will wieder zurück in den normalen Wahlkampfmodus. Dass dies gar nicht so leicht ist, zeigen aber schon die mehreren hundert Demonstranten vor dem Congress Center, die lautstark gegen die AfD und nun auch gegen die CDU protestieren.
Drinnen versucht Merz, der am Nachmittag in Berlin nach der Abstimmungsniederlage noch angeschlagen wirkte, Normalität zu demonstrieren. Mehr als 50 Minuten lang tigert er über die Bühne, eine Hand meist in der Hosentasche, und erzählt, wofür die CDU stehe und was die anderen alles falsch machten. Selbst verwundert über seine Erlebnisse am Freitag erzählt er den Zuhörenden aber zunächst von den denkwürdigen Sondierungen im Bundestag. Bei den Treffen mit den Fraktionschefs von SPD, Grünen und der FDP habe eine Atmosphäre geherrscht - «da war nur Gift», erzählt er kopfschüttelnd.
Natürlich ist in seiner Erzählung vor allem die FDP schuld an der Abstimmungsniederlage. Die Abweichler in den eigenen Reihen - «nur zehn von 196» - verteidigt Merz dagegen, weil er jede Gewissensentscheidung akzeptiere. Natürlich sei seine Niederlage für ihn trotzdem ein Gewinn für den Parlamentarismus. Zudem wisse nun alle Welt, welche Partei wo in der Migrationspolitik stehe.
Und dann bekommt Merz von den thüringischen CDU-Anhängern donnernden Applaus, als er die heftige Kritik an der Abstimmung mit der AfD zurückweist und in den Saal ruft: «Machen wir uns denn von der AfD abhängig, ob wir unsere Anträge in den Deutschen Bundestag einbringen oder nicht? Und wenn die Ja sagen, sagen wir Nein zu unseren eigenen Anträgen? Leute, das kann nicht richtig sein.» Dabei sei doch klar, dass er mit der AfD nicht zusammenarbeiten werde.
«Heieieiei, also kann es nicht ein bisschen kleiner sein?»
Über die Empörung seiner Kritiker macht er sich nur lustig - etwa über SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. «Das Tor zur Hölle sei geöffnet. Heieieiei, also kann es nicht ein bisschen kleiner sein?», frotzelt er zu Mützenichs dramatischer Warnung vor der AfD. Nach zehn Minuten Sonderstrecke Migrations-Streit will Merz dann aber erkennbar zurück in seinen normalen Wahlkampfmodus kehren.
Er redet über den desolaten Zustand der Wirtschaft, den nötigen Abbau der Bürokratie - und wie immer wiederholt er die Passagen über die angeblich fehlenden Siegerurkunden bei Bundesjugendspielen und dem angeblichen Verbot des Verlierens und Toreschiessens im Kinderfussball. Das stimmt zwar beides nicht - aber Merz setzt es ein, um angebliche Fehlentwicklungen in der Gesellschaft mit sinkendem Leistungsgedanken aufzuspiessen. In Erfurt erntet er damit wie auf jeder CDU-Wahlveranstaltung schenkelklopfenden Applaus seiner Anhänger.
Nach 30 Minuten scheint Merz den Zweifel, ob ihm der kritisierte Tabubruch mit der AfD im Wahlkampf schadet oder nutzt, vollständig verdrängt zu haben. Er wird beim Reden über Wirtschaftsthemen immer lockerer. Hier sieht er die grössten Sorgen der Wähler, die schlechteste Bilanz der Ampel und die besten Kompetenzwerte der Union. Hier glaubt er punkten zu können, wenn er etwa von seinem Treffen mit dem Microsoft-Chef in Davos spricht - ganz der künftige Kanzler im Dialog mit einem mächtigen CEO. Viele Passagen wirken so, als ob sie Versatzstücke der Merz-Rede auf dem CDU-Bundesparteitag am Montag sein könnten.
Fast schon Standard ist ein Scherz auf Kosten von Wirtschaftsminister Robert Habeck. Dieser wolle nicht zugeben, dass Deutschland auf den letzten Platz beim Wachstum abgerutscht sei. Habeck würde laut Merz dazu nur sagen: «Wir sind nicht Letzter, nur hinter uns kommt keiner». Und Merz erntet wieder Gelächter.
(Reuters)