cash.ch: Strukturelles Wachstum, in das Sie stark investiert sind, ist dieses Jahr an der Börse unter Druck. Wachstumsaktien sind im In- und Ausland gefallen. Ist schon eine Talsohle erreicht?

Martin Lehmann: Die Inflation und damit höhere Zinsen sind spätestens seit dem dritten Quartal 2021 ein Thema an den Märkten. Steigende Zinsen drücken auf die Bewertung speziell von Aktien mit hohen Bewertungskennzahlen. Der Diskontfaktor steigt und dadurch nimmt der Gegenwartswert der zukünftigen Gewinne ab. Im zweiten Halbjahr wird sich die Inflationsrate aufgrund des Basiseffekts jedoch abschwächen. 

Werden sich die Märkte mit den steigenden Zinsen arrangieren?

Mehrere Zinsschritte sind eingepreist. Dies sollte den Aktienmärkten helfen. Bei den Wachstumstiteln sehen wir, dass die Kurse zum Teil um bis zu 40  Prozent oder mehr zurückgekommen sind, ohne dass es firmenspezifische schlechte Nachrichten gegeben hat. Mit der gesunkenen Bewertung werden die Aktien von Firmen mit strukturellem Wachstumspotential auch wieder attraktiver. 

Weshalb sind die Märkte dann noch so zurückhaltend? 

Es gibt noch viel Gesprächsbedarf bei grossen Themen: Inflation, Zinsen, Probleme in der Lieferketten, steigende Energiepreise, der Krieg in der Ukraine. Im zweiten Halbjahr wird sich da aber viel entspannen. 

Eine Aktie, welche seit vergangenem Sommer den Kurs halbiert hat, ist Logitech. Früher ein Liebling, heute umstritten an der Börse. Sie bleiben bei der Aktie des Peripherieherstellers. Weswegen? 

Man stellt Logitech zu unrecht in die Ecke der Pandemiegewinner. Die Pandemie hat zwar vieles beschleunigt, ist aber auch nicht in jeden Punkt der einzige Auslöser gewesen. Video Conferencing sowie ein hybrides Arbeitsmodell sind aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken und sind hier, um zu bleiben. Auch in strukturellen Wachstumsfelder wie Gaming und E-Sports sowie bei Streaming und Content Creation ist Logitech gut positioniert. Logitech – wenn auch vielleicht nicht mehr mit Wachstumsraten wie während der Pandemie – verfügt nach wie vor über genügend Wachstumsmöglichkeiten.

Der Stay-at-Home-Faktor nimmt ab, und mit Inflation und drohender Rezession wird bei Ausgaben wie Gaming, Videoausrüstung und dergleichen gespart. Sind dies nicht zwei negative Trends für Logitech? 

Definitiv sind Konsumausgaben wichtig für Logitech. Der starke Kursrückgang, der schon vor aufkommenden Sorgen wegen sinkenden Konsumausgaben einsetzte, kann jedoch nicht nur damit begründet werden. Bis jetzt sind Befürchtungen bezüglich sinkenden Umsätzen nicht eingetroffen und Logitech wartete mit starken Zahlen im wichtigen Weihnachtsquartal auf. Auch anlässlich des Investorentags von Logitech Anfang März zeigte sich das Management zuversichtlich. Ich bin gespannt auf die Zahlen und den Kommentar zum vierten Quartal, die nächste Woche publiziert werden.

Können Sie mit der Bewertung von Logitech leben? Und wann rechnen Sie mit einem wieder steigenden Kurs?

Rechnet man die Cash-Bestände heraus, liegt das Kurs-Gewinn-Verhältnis bei 17. Für einen Titel mit einem Präsenz in attraktiven Wachstumsbereichen, einer schuldenfreien Bilanz sowie einem guten Management ist dies sehr attraktiv. Bis das Momentum beim Kurs dreht, ist allerdings noch Geduld nötig. 

Als Elektronikunternehmen ist Logitech wie viele andere Unternehmen von der grossen Nachschubkrise betroffen. Wird der Markt die Lieferketten-Probleme mit der Zeit verzeihen?

Gerade bei Logitech spürte man im wichtigen Weihnachtsgeschäft letztes Jahr gar nicht so viel von den Lieferkettenproblemen. Das Management hat umsichtig die Lagerhaltung im letzten Sommer erhöht und konnte so von Lieferschwierigkeiten von Mitbewerbern profitieren. Dadurch gewann Logitech Marktanteile.

Wird es beim Lieferkettenproblem einen Gewöhungseffekt geben? 

Firmen, mit denen ich Kontakt habe, verfügen über volle Auftragsbücher. Das Problem wird sein, die Margen zu schützen. Wer Preise weitergeben kann, schützt seine Profitabilität. Zudem: Starke Firmen wie Sika oder Interroll werden aufgrund ihrer Marktpositition von Zulieferern bevorzugt behandelt und leiden damit weniger unter Lieferkettenproblemen.

Unter die Räder gekommen ist an der Börse nach Logitech ein weiteres viel beachtetes Tech-Unternehmen, Temenos, ein Bestandteil Ihres Portfolios. Unter anderem kauft der Markt die Umstellung auf das Abo-Modell bei der Bankensoftware weiter nicht. 

Wir sind schon länger in Temenos investiert und natürlich sind wir über den Kursverlauf enttäuscht. Das Management von Temenos hat in den letzten Monaten durch ungenügende Kommunikation viel Goodwill verspielt. Der Investment-Case ist für mich aber nach wie vor intakt: Der Trend zu Digitalisierung hält an und die meisten Banken haben in diesem Bereich zu wenig unternommen. Zuletzt hielten sich die Banken in der Pandemie mit grösseren Investitionen zurück. Auch die Umstellung vom Vertriebsmodell zum Software-as-a-Service braucht Geduld.

Gerade diese Woche sind wieder Übernahmegerüchte aufgetreten, die auch den Kurs stark angetrieben haben: Temenos soll in Gesprächen mit der Beteiligungsgesellschaft Thoma Bravo stehen. Würde dies Sinn machen? 

Das nun erneut wieder Übernahmegerüchte aufgetaucht sind, überrascht mich nicht. Auf dem jetzigen Level ist der Titel unterbewertet. Für einen Private-Equity-Akteur, der genau die schon erwähnte Geduld mitbringt, könnte eine Übernahme viel Sinn ergeben.

Noch ein abgestürzter Hoffnungsträger ist SoftwareOne. Auch dort sehen Sie Potential, im Gegensatz zu manchen ihrer Kollegen. Wie kann aus der Kurs-Enttäuschung noch etwas werden für Investorinnen und Investoren?

Anlässlich des Börsengangs von SoftwareOne im Herbst 2019 wurde eine Ebitda-Marge von 35 Prozent in Aussicht gestellt. Nun wurde zum zweiten Mal in Folge die Erwartungen bezüglich Profitabilität klar verfehlt. Der Markt reagierte ungnädig. Meines Erachtens führt das Management die Firma so, als wäre die Eigentümerschaft – wie vor dem Börsengang – hauptsächlich aus dem Private-Equity-Bereich.

Erwarten Sie eine Besserung? 

Die Firma ist mit Software- und Cloud-Technologielösungen vielversprechend positioniert. Das Geschäftsmodell ist attraktiv, wächst zweistellig und die Firma verfügt über eine starke Bilanz. Auch eine Ebitda-Marge von 25 Prozent ist attraktiv.

Kann SoftwareOne, wenn es zu einem gereifteren Unternehmen wird, an der Börse so erfolgreich werden wie Also, einem Unternehmen aus einem ähnlichen Segment? 

Das Management muss nun mit verlässlicher und klarer Kommunikation das Vertrauen der Investoren wieder zurückgewinnen. Ich habe grosse Hoffnung, dass mit dem Zugang vom vormaligen Lonza-CFO Rodolfo Savitzky, sich die Investorenkommunikation zum Besseren wendet. Die Aktie ist auf jeden Fall attraktiv bewertet.

Neben Wachstumstiteln sind ja auch die vor allem kleineren und mittelgrossen Zykliker unter Druck. Man kann dies grob am Index SPI Extra sehen, der die grossen Defensiven ausschliesst und der rund 14 Prozent unter Jahres-Anfangskurs liegt. Der SMI hat nur 6 Prozent verloren. Das Wundermittel heisst bei Small und Mid Caps immer 'Qualität'. Hat der Markt wirklich genug Vertrauen? 

Längerfristig wird man – dank stärkerer Gewinnwachstumsdynamik und mehr Agilität - mit Small und Mid Caps besser als mit Large Caps fahren, davon bin ich fest überzeugt und die Vergangenheit hat das auch bewiesen. Die Schweiz hat sehr gute Unternehmen in der zweiten und dritten Reihe, die dank Innovation und Technologieführerschaft oftmals Weltmarktführer in ihren Nischen sind. Als Stock Picker bin ich aber selektiv. Eine starke Marktposition in einem strukturell wachsendem Markt, eine solide Bilanz sowie ein attraktives Margenprofil sind für mich wichtige Merkmale.

Welche Aktien bevorzugen Sie? 

Nebst den soeben erwähnten Punkten ist es – vor allem in einem inflationären Umfeld  - wichtig, dass die Firma über Preissetzungsmacht verfügt. Firmen mit diesen Merkmalen haben aus gutem Grund eine höhere Bewertung verdient. Straumann, wo am Donnerstag die Zahlen präsentiert wurden, wuchs in allen Regionen und konnte den Umsatz im 1. Quartal um 27 Prozent erhöhen. Trotzdem hat der Titel seit dem Peak letzten Herbst rund 45 Prozent verloren, was auf die steigenden Zinsen zurückzuführen ist. Auch Sonova gefällt mir gut, da dieser Titel attraktiver als Straumann bewertet ist. 

Setzen Sie auch auf klassischere Industrietitel? 

SIG Combibloc hat bereits defensive Qualitäten mit einem widerstandsfähigen Geschäftsmodell: Wenn das Verpackungsmaterial für die Verpackungsmaschinen liefert, ist das gewissermassen wie bei Gillette mit den Rasierklingen für Rasierer: Man hat ein konstantes Geschäft und ist weniger von konjunkturellen Zyklen betroffen. Immer noch spannend finde ich auch Schindler, obwohl der Titel nach dem Evergrande-Debakel im letzten August eine schwierige Zeit hatte: Margendruck, Rohstoffkosten sowie ein Wechsel auf dem CEO-Posten. Das wenig kapitalintensive Geschäftsmodell mit einem hohen Service-Anteil überzeugt mich jedoch. Das Thema Urbanisierung wird Schindler weiter stark helfen.   

Von welchen Aktien raten Sie definitiv ab? 

Richtige 'Don'ts' sehe ich nicht. Klar, die Renaissance der Zykliker dauerte nach der Rotation von Wachstum weg nur kurz, bis zur russischen Invasion in der Ukraine. Unwägbarkeiten, die man nicht gut einschätzen kann, sind beispielsweise ein möglicher Gaslieferstopp aus Russland, der Deutschland und damit auch die Schweizer Industrie hart treffen würde. Aber im Moment sehe ich mehr Opportunitäten. 

Sie sind auch in defensivere Aktien investiert, wie Helvetia oder Lindt & Sprüngli. Ist dies - von einem deutlich auf Tech und Zykliker ausgerichteten Fondsmanager - als gewisses Eintreten für mehr Diversifikation zu verstehen? 

Helvetia haben wir seit Anfang Jahr stark aufgestockt, weil bei steigenden Zinsen Finanzwerte profitieren. Von Bankaktien lasse ich aber nach wie vor die Finger. Bei Lindt spielen für mich die defensiven Qualitäten, aber auch das sehe ich einen strukturellen Trend: In der Schweiz werden pro Kopf und Jahr 9,7 Kilo Schokolade, in asiatischen Ländern hingegen ist dies unter 100 Gramm. Wenn sich dies nur verdoppelt, ist dies eine riesige Opportunität.

Martin Lehmann ist CEO und Fondsmanager bei der Anlagegesellschaft 3V Asset Management. Im Video-Interview äussert sich Lehmann zur Inflationsentwicklung, zur Frage, ob Aktien noch alternativlos sind und wie sich die Märkte in den nächsten zehn Jahren entwickeln könnten.