cash.ch: Der Aktien-Ausverkauf, der Ende letzter Woche einsetzte, hat an den weltweiten Börsen wohl viele auf dem falschen Fuss erwischt. Viele fragen sich noch immer: Was ist passiert?

Mathieu Racheter: Die Gründe für die aktuelle Marktkorrektur sind vielfältig. Erstens haben die jüngsten Konjunkturdaten aus den USA enttäuscht. Insbesondere die schwache Stimmung im verarbeitenden Gewerbe sowie die unerwartet starke Abkühlung am Arbeitsmarkt hat zu steigenden Rezessionsängsten unter den Marktteilnehmern geführt. Auch konnten die führenden Technologieunternehmen in den USA, welche letztlich für einen Grossteil der diesjährigen Aktienrallye verantwortlich waren, die hohen Erwartungen der Investoren während der Berichtssaison nicht ganzheitlich erfüllen. 

In den letzten Jahren nahmen Anleger in Japan zu niedrigen Zinssätzen Kredite auf, um in höher rentierende Vermögenswerte zu investieren. Welche Rolle nimmt der «Carry Trade» des Yen beim Absturz ein?

Nicht zuletzt hat auch die überraschende Zinserhöhung der Japanischen Zentralbank (BoJ) zu einer rapiden Auflösung von Yen-finanzierten gehebelten Carry-Trades geführt. Somit hat das Sommerloch an den Aktienmärkten zu einem perfekten Sturm geführt. 

Ein historischer Moment?

Ja, betrachtet man die Geschwindigkeit und das Ausmass der Korrektur, kann man durchaus von einem historischen Moment sprechen. Der Carry-Trade hat über einen längeren Zeitraum Investitionen unter anderem in japanische Aktien oder US-Technologie finanziert. Nun hat sich das gesamte Szenario umgekehrt. Gewisse  Investoren wurden dabei gezwungen, den Carry-Trade aufzulösen und somit die profitabelsten Positionen zu verkaufen, wie zum Beispiel US-Technologieaktien. Es ist auch interessant festzustellen, dass es keinen typischen Risk-off-Moment gab. Normalerweise würde in einem solchen Fall der Goldpreis steigen anstatt zu fallen. Die Investoren hatten vor dem Ausverkauf eine extrem 'bullishe' Positionierung eingenommen.

Stichwort Volumen: Inwiefern spielt die Ferienzeit beim Ausverkauf eine Rolle?

Verschärft wurde dieser Ausverkauf an den globalen Aktienmärkten dadurch, dass die Liquidität in den Sommermonaten in der Regel geringer ist. Wir haben zwar seit einiger Zeit die Einschätzung vertreten, dass die Aktienmärkte angesichts der hohen Positionierungen und der optimistischen Gewinnerwartungen reif für eine kurzfristige Korrektur seien; der rasante Rückgang der Aktienmärkte hat aber zugegebenermassen auch uns überrascht. Die drastische Korrektur am Aktienmarkt wird jedoch zurzeit vielmehr von technischen Faktoren als von Fundamentaldaten bestimmt.

Es gibt Markteinschätzungen, die besagen, dass der Carry Trade noch nicht vollständig abgewickelt ist. Wie beurteilen Sie die Situation?

Die Abwicklung des Carry Trades ist bereits weit fortgeschritten. Die Daten zeigen, dass viele dieser übermässigen Positionierungen auf dem Markt bereits deutlich reduziert wurden. Die Frage ist nun, ob die kommenden Wochen einen Katalysator bieten werden, die eine Trendwende im Aktienmarkt auslösen würde. 

Was wird an den Märkten derzeit aus- beziehungsweise eingepreist?

Eingepreist wird eine Konjunkturabschwächung in den USA. Zykliker hinken den defensiven Aktien massiv hinterher, was zunehmend Rezessionsängste der Marktteilnehmer widerspiegelt.

Rechnen Sie noch mit einem 'Soft Landing' der US-Wirtschaft?

Ja. Einfach die Wahrscheinlichkeit einer Rezession hat zugenommen. Wir haben die Wahrscheinlichkeit eines Rezessionsszenarios von 15 Prozent auf 25 Prozent erhöht. 

Wie sehen Sie die Versprechen der Künstlichen Intelligenz, das an der Börse derzeit in Frage gestellt wird?

Man kann davon ausgehen, dass die euphorischen Investorenerwartungen etwas gedämpft wurden. Der ‹Magnificent 7 Index› beispielsweise verzeichnet ein Minus von 18 Prozent seit dem Peak Anfang Juli.

Ist das Abstrafen von KI-Wetten rational?

Fundamental ergibt sich nach wie vor ein ähnliches Bild wie vor einigen Monaten: Cloud bleibt stark, Hyperskalierer kaufen weiterhin KI-Logiken, Speicher und Verbindungschips, während die Software-Firmen nur langsam beginnen, Geld zu verdienen. Das Hauptproblem bei KI-Investitionen ist, dass es Zeit braucht, bis die Gewinne die Investitionen übersteigen, was zwischen überschwänglichem Optimismus und Pessimismus zu Volatilität führt.

Welche Risiken sind derzeit nicht eingepreist?

Das zunehmende Risiko einer Eskalation zwischen Israel und Iran könnte zu höheren Ölpreisen führen – aktuell fällt der Ölpreis aufgrund anderer Faktoren. Keiner der grossen Ölproduzenten hat in den letzten zehn Monaten das weltweite Ölangebot als Folge des Hamas-Israel-Konflikts reduziert. Vielmehr haben der Iran und die OPEC erstaunlicherweise ihren Beitrag zur weltweiten Ölversorgung leicht erhöht. 

Was müsste passieren, damit es im Restjahr in der Tendenz weiterhin aufwärts geht?

Die Aktienmärkte werden in nächster Zeit wahrscheinlich volatil bleiben, bis wir bessere Wachstumsdaten oder mehr Unterstützung durch die Fed erhalten - was unserer Meinung nach kurzfristig nicht der Fall sein wird. Das Dilemma für die Fed ist, dass die nächste Sitzung erst in sechs Wochen stattfindet, und das ist eine Ewigkeit, wenn die Märkte so handeln wie heute. Gewisse Marktteilnehmer erwarten sogar Notzinssenkungen der Fed vor der nächsten regulären Sitzung. Wir würden jedoch eine solche aggressive Lockerung der Geldpolitik als Fehler einschätzen, da die Gefahr einer Blasenbildung wie nach dem  Zusammenbruch des Hedgefonds Long Term Capital Management (LTCM) im Jahr 1998 resultieren könnte. Zudem beinhaltet eine Notzinssenkung das Risiko, die Investoren bezüglich Wachstumsaussichten noch nervöser zu machen.

Wie sollten sich Anleger verhalten?

Der Markt könnte sich gelegentlich erholen, die Talsohle erreichen und anschliessend mit geringerer Volatilität die jüngsten Tiefststände erneut testen. Anleger können daher langsam damit beginnen, ihre Aktien-Wunschliste zusammenzustellen oder den Verkauf von Put-Optionen auf Qualitätsaktien in Betracht zu ziehen.

Was ist mit der Bank Julius Bär?

Vorerst ziehen wir es vor, abzuwarten. Dennoch haben wir die aktuelle hohe Volatilität genutzt, um unsere Aktienabsicherungen in Form von Put-Optionen, welche sich in weniger als einem Monat im Wert verdreifacht haben, aufzulösen, um somit Gewinnmitnahmen vorzunehmen.  

Die Halbjahreszahlen in der Schweiz bieten Licht und Schatten. Welche Titel haben Ihrer Meinung nach am meisten enttäuscht?

Berichtssaison in der Schweiz fällt bislang insgesamt solide aus. In den zyklischen Sektoren wurden manche Unternehmen von dem herausfordernden Marktumfeld dennoch stärker als erwartet getroffen. Zum Beispiel vermeldete Swatch aufgrund des Nachfrageeinbruchs nach Luxusgütern in China, Hongkong und Macau einen Umsatz- und Margenrückgang im ersten Halbjahr und verfehlte die Erwartungen deutlich. Der Umsatz ausserhalb Chinas war stabil. Temenos verfehlte die Konsensschätzungen unter anderem aufgrund von Verzögerungen bei Software-Abschlüssen.

Auf was sollten Anlegerinnen und Anleger setzen? Substanzaktien, Zykliker oder Wachstumswerte?

Für Anleger ist es wichtig zu unterscheiden, was die Zentralbanken dazu treibt, die Zinsen zu senken. Grob gesagt: Falls die Zinssenkung auf einen Rückgang der Inflation zurückzuführen ist, während die Konjunkturdaten weiterhin stabil sind und zukünftig durch die tieferen Zinsen einen weiteren Schub erhalten, sollten vor allem Zykliker profitieren. Falls aber die Zentralbanken die Leitzinsen primär aufgrund der Abschwächung der Wirtschaft senken, sind es meistens die defensiven Aktien, welche Schutz bieten.   

Warum erwähnen Sie Wachstumswerte nicht?

Das strukturelle Umfeld hat sich seit Beginn der Pandemie kaum verändert. Wir befinden uns in einer Phase, in der das Wirtschaftswachstum tendenziell niedrig bleibt. Daher bleibt das gesamte Umfeld eher ein passendes für Wachstumsaktien. Andere Anlagestile sind hingegen eher taktisch zu betrachten.

Was sind im Hinblick Ihres Marktausblicks die Schweizer Gewinneraktien für das restliche Jahr 2024?

Wir bleiben weiterhin zuversichtlich für Alcon, Sandoz, Partners Group und Nestlé.

Welches Schweizer Unternehmen bietet den besten Burggraben, ist mit dem geschäftsmodell also wenig angreifbar?

Wir sehen im Schweizer Aktienmarkt zahlreiche unterbewertete Qualitätsaktien, unter anderem Alcon, Lindt & Sprüngli und Partners Group.

Welches sind Dividendentitel, die man bereits jetzt kaufen sollte?

Viele Schweizer Unternehmen verfolgen eine attraktive Dividendenpolitik, was sich in einer attraktiven Dividendenrendite zeigt. Beispiele hierfür sind Holcim, Partners Group, Nestlé, PSP Swiss Property und SGS.

Welche Börsenweisheit halten Sie sich heilig? 

‹The stock market is a device to transfer money from the impatient to the patient› von der Investorenlegende Warren Buffett. Auf Deutsch: ‹Die Börse ist ein Instrument, um Geld von Ungeduldigen zu Geduldigen zu transferieren.› In turbulenten Marktperioden wie zurzeit ist es wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren und an der langfristigen Anlagestrategie festzuhalten. Die derzeitige, technisch bedingte Marktkorrektur wird sich wahrscheinlich als gute Gelegenheit erweisen, hervorragende Unternehmen zu einem attraktiveren Preis zu kaufen.

Letztes Wochenende wurde bekannt, dass Warren Buffett im zweiten Quartal beträchtliche Mengen Apple-Aktien und Anteile anderer Unternehmen verkauft hat. Wäre es überraschend, wenn er im dritten Quartal wieder als Käufer in Erscheinung träte?

Das hängt von der Entwicklung des Marktes ab. Buffett verfolgt einen sehr wertorientierten Ansatz. Er kauft, wenn etwas zu einem niedrigen Preis erhältlich ist und verkauft, wenn es zu teuer wird. Wenn der Markt weiterhin korrigiert, könnte es sein, dass Buffett wieder zum Kauf übergeht.

Mathieu Racheter ist seit 2021 Head of Equity Strategy bei der Bank Julius Bär. Zuvor war er als Schwellenländerstratege tätig. Er verfügt über einen Masterabschluss der Universität St. Gallen und ist CFA und CAIA Charterholder.

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