Es ist ein Fakt, dass sich Börsenindizes wie der SMI oder der S&P 500 über die Jahrzehnte gesehen nach oben bewegen. Denn der Aktienmarkt reflektiert die Wirtschaftsleistung, die durch zwei Faktoren angetrieben wird: Menschen erfinden und entdecken immer neue Möglichkeiten, wie Ressourcen noch besser genutzt werden können - die Dampfmaschine, die Miniaturisierung oder das Internet sind Beispiele hierfür. Zudem wächst die Weltbevölkerung weiter, was die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen antreibt.

Was Anlegerinnen und Anleger trotz dieser positiven Langfristperspektive mehr umtreibt, sind die Korrekturphasen - wie es im Jahr 2022 durch die steigenden Zinsen geschehen ist. Und gerade jetzt, wo sich die Aktienkurse vom letztjährigen Tief im Oktober deutlich erholt haben, befürchten viele Marktteilnehmer, dass der nächste Einbruch vor der Tür steht.

Obwohl man im Rückblick im Oktober 2022 und im März 2023 idealerweise hätte einsteigen sollen, gibt es gute Gründe, warum ein Absacker der Börsen ausbleibt und der Aufwärtstrend anhält. Eine Übersicht:

1) Geldpolitik - Bewertungsdruck nimmt ab

Vor dem Zinsentscheid in den USA an diesem Mittwoch zeigt der heiss gelaufene Arbeitsmarkt in den USA überraschend Abkühlungstendenzen. Noch grösser ins Gewicht fällt, dass die Inflationsdaten zuletzt einen klaren rückläufigen Trend aufgewiesen haben. Die Teuerungszahlen für den Monat Mai kommuniziert das US- Arbeitsministerium am Dienstag.

Sollte sich der Trend bei der Inflation und den Arbeitsmarktdaten fortsetzen, dürfte eine negative Überraschung seitens der Fed dieses Jahr wohl ausbleiben. "Die Zinsen haben ihren Scheitelpunkt im Zyklus erreicht oder sind nahe dran - das nimmt Bewertungsdruck von den Aktien", sagt auch Christian Gattiker, Research-Chef von Julius Bär, gegenüber cash.ch. Dem Fed-Watch-Tool der CME Group zufolge wird die US-Notenbank die Zinsen nur noch einmal um 25 Basispunkte erhöhen, bevor sie Ende Jahr mit Leitzinssenkungen eine geldpolitische Kehrtwende vollzieht, die auch im Jahr 2024 anhalten dürfte. 

Wenn die Zinsen tatsächlich ihren Scheitelpunkt erreicht haben oder nahe dran sind, werden Aktien mit stabilem Wachstum am besten abschneiden. "Bei den Sektoren erscheinen uns Informationstechnologie, Kommunikation und das Gesundheitswesen am attraktivsten", sagt Gattiker. Auf Titelstufe hat Julius Bär Nestlé und Partners Group auf der globalen Kaufliste. Ansonsten empfiehlt Gattiker unter anderem folgende Schweizer Aktien zum Kauf: Accelleron, Alcon, Georg Fischer, Helvetia, Lindt & Sprüngli, Lonza, PSP, Richemont, Roche, Stadler Rail, Swiss Life und Tecan.

2) Konjunktur - Scharfe Eintrübung unwahrscheinlich

Die USA steuert auf eine Rezession zu - hört man seit einem Jahr am Markt. Dabei hat die Resilienz der US-Wirtschaft trotz hoher Inflation und steigender Fremdkapitalkosten wiederholt überrascht. Eine sanfte Landung liegt immer noch im Bereich des Möglichen, insbesondere da der geldpolitische Gegenwind allmählich nachlässt. Ebenso wichtig ist die Entwicklung der Teuerung selbst: Hier wurde der Zenit überschritten, die Inflationsraten sind rückläufig. Die Massnahmen der Notenbanken scheinen ihre Wirkung nun zu entfalten - und dies ohne eine scharfe Rezession auszulösen.

Zudem ist die Stimmung in China aktuell auf einem Tiefpunkt. Strukturelle Faktoren wie die sich abzeichnende Rekrutierung jüngerer Arbeitskräfte könnten den Konsum in der zweitwichtigsten Volkswirtschaft der Welt nach und nach erhöhen. Die bessere Stimmung auf dem Immobilienmarkt sowie die Hoffnung auf staatliche Stimuli sprechen auf mittlere Frist für einen Richtungswechsel. "Die Rezession wird es zwar hier und da geben - weltweit sieht es nicht nach einer gleichzeitigen Schrumpfung aus wie 2008 oder im Lockdown im 2. Quartal 2020", prognostiziert Gattiker.

3) Gewinne - Unternehmen trotz Teuerung gut aufgestellt

Ein Gewinneinbruch bei den Unternehmen ist im aktuellen Konjunkturumfeld weiterhin unwahrscheinlich. "Die jüngste Berichtssaison hat gezeigt, dass sich ein Grossteil der Unternehmen sehr gut auf die gestiegene Teuerung eingestellt hat und in der Lage ist, sehr ansprechende Gewinne zu generieren", sagt Florian Deiss, Senior Aktienanalyst der Schwyzer Kantonalbank, auf Anfrage von cash.ch. Auch wegen guten Abschlüssen der Unternehmen sehen die Bewertungen in der Breite trotz starker Erholung der Aktienmärkte nicht extrem aus.

Woran liegt das? Die Pandemie löste wohl einen weltweiten Technologie- und Produktivitätsschub aus. Zudem motivierte sie viele Babyboomer zusätzlich, vorzeitig aus dem Arbeitsmarkt auszuscheiden und verstärkte damit den Fachkräftemangel. Dieser Mangel motiviert Unternehmen, in intelligentere Maschinen, Fabriken und IT zu investieren. Davon profitiert auch die Industrie. Noch stärker läuft das Dienstleistungsgeschäft - insbesondere der Tourismus -, das bekanntlich den Grossteil der Nachfrage in reichen Ländern ausmacht.

4) Stimmung, Momentum und hohe Cash-Bestände

"Ganz kurzfristig sehen wir die nachlassenden Sorgen um das Bankensystem und die US-Schuldenobergrenze als positive Treiber für die Aktienmärkte", sagt Deiss. Beides führte dazu, dass Anlagen aufgeschoben wurden. Dieses Kapital fliesst nun allmählich wieder dem Finanzmarkt zu. Trotzdem sind Anleger laut vielen Umfragen immer noch sehr skeptisch und viel Bargeld wartet auf einen Einstieg. 

Auch könnte das Momentum am Markt anhalten: Goldman Sachs erwartet, dass sich die Rallye über den Technologiesektor hinaus ausweitet, da auf frühere Episoden einer starken Verengung der Breite ein Aufholen durch eine breitere Neubewertung folgte. Seit 1980 hat es neun ähnliche Episoden gegeben, auf die schliesslich eine Aufholjagd bei anderen Aktien folgte. Erste Anzeichen hierfür sind schon gegeben: So hat sich der breite Russell 2000 Index seit Anfang Juni besser entwickelt als der S&P 500.

5) Innovations-Boost durch Künstliche Intelligenz

Der Tech-Sektor wurde dieses Jahr durch die Entwicklung bei der Künstlichen Intelligenz (KI) beflügelt. Die Anwendbarkeit von Generativer KI - diese schafft neue Inhalte ohne menschliches Zutun - wurde durch ChatGPT offensichtlich. Der Chipdesigner Nvidia ist mit einem Kursplus von über 170 Prozent der grösste Profiteur. Der US-Technologieindex hat in derselben Zeitperiode 34 Prozent gewonnen und befindet sich auf dem Niveau vom April 2022.

KI hat sich von einer langfristigen Wette in eine kurzfristige Realität verwandelt, die das Potenzial hat, eine breite Palette von Branchen umzukrempeln. Es geht um eine Freisetzung von Kapazitäten, die die Fähigkeiten von Technologie im Allgemeinen erhöht. "Wir sind davon überzeugt, dass dieser technologische Fortschritt den Markt noch wesentlich weiter tragen kann, auch wenn aufgrund der aktuellen Euphorie sicherlich eine Verschnaufpause angesagt wäre", sagt Deiss.

Sowohl das Thema KI als auch eine weniger restriktive Geldpolitik spielt dem IT-Sektor in die Hände. Die Schwyzer Kantonalbank rät jedoch bei Nvidia nach dem steilen Anstieg davon ab, hinterher zu rennen. "Eher bieten sich nach etwaigen Rücksetzern Titel aus der zweiten Reihe an, beispielsweide dem Zulieferer VAT, der ebenfalls von der höheren Chipnachfrage profitiert", so Deiss.

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