Gaza-Krieg drängt Israel in die Isolation

Die Terroristen hatten an jenem Tag vor sechs Monaten den Süden Israels überfallen, rund 1200 Menschen getötet und weitere 250 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Israels Streitkräfte reagierten mit massiven Luftangriffen und einer Bodenoffensive, die verheerende Wirkung entfaltete. Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten palästinensischen Gesundheitsbehörde in Gaza wurden bisher mehr als 33 000 Palästinenser getötet, wobei die unabhängig kaum zu überprüfenden Angaben keinen Unterschied zwischen Kämpfern und Zivilisten machen. Die israelische Armee gab am Sonntagmorgen den Tod vier weiterer Soldaten bekannt. Seit Beginn der israelischen Bodenoffensive Ende Oktober sind damit 260 Soldaten und Soldatinnen getötet worden, wie die «Times of Israel» berichtete.

Ein Grossteil der 2,2 Millionen palästinensischen Einwohner des abgeriegelten Küstengebiets hat wegen der massiven Zerstörungen inzwischen kein Heim mehr, viele leiden unter Hunger. Wegen seiner brutalen Kriegsführung ist Israel auf der Weltbühne zunehmend isoliert. Selbst Verbündete üben nun offen Kritik an Ministerpräsident Netanjahu. In den Vereinigten Staaten und Grossbritannien mehren sich Rufe nach einem Stopp der Waffenlieferungen an Israel. Gleichzeitig stehen Netanjahu und seine Regierung im eigenen Land unter wachsendem Druck. Kritiker werfen ihm vor, den Schutz der Gaza-Grenze vernachlässigt zu haben und die Interessen des Landes seinem politischen Überleben unterzuordnen. Viele Menschen in Israel haben mit den traumatischen Folgen des Massakers vom 7. Oktober zu kämpfen.

Massenproteste in Israel

Bei den Massenprotesten am Samstagabend entfachten Demonstranten mehrere Feuer auf der Strasse. Dabei kam es zu Zusammenstössen mit der Polizei, wie Medien berichteten. Angehörige der Verschleppten werfen Netanjahu vor, einem Geisel-Deal im Wege zu stehen. Im Laufe einer einwöchigen Feuerpause Ende November hatte die Hamas 105 Geiseln freigelassen. Im Gegenzug entliess Israel 240 palästinensische Häftlinge aus seinen Gefängnissen. Knapp 100 der im Gazastreifen verbliebenen Geiseln dürften nach israelischen Schätzungen noch leben. Israel und die Hamas verhandeln seit Monaten - aber nicht direkt miteinander. Stattdessen treten die USA, Katar und Ägypten als Vermittler auf. Die Gespräche über eine Feuerpause und Freilassung der Geiseln stocken seit Wochen. Washington will einen Durchbruch erzwingen.

Bericht: USA drängen Israel zu Zugeständnis

Wie das «Wall Street Journal» am Samstag unter Berufung auf amerikanische, israelische und ägyptische Beamte berichtete, will die US-Regierung erreichen, dass Israel bei einer neuen Verhandlungsrunde der Vermittler in Kairo eine begrenzte Rückkehr von Zivilisten in den Norden des umkämpften Gazastreifens erlaubt. Vertreter der Hamas wollen nach eigenen Angaben an diesem Sonntag nach Kairo reisen, um weiterzuverhandeln. Israels Kriegskabinett sollte laut israelischen Medienberichten am Sonntagmorgen zusammentreten, um zunächst darüber zu beraten, ob es eine Delegation nach Kairo schickt oder nicht.

Die von der Hamas geforderte Rückkehr der palästinensischen Zivilisten in den Norden des abgeriegelten Küstengebiets sei ein entscheidender Streitpunkt bei den Gesprächen, berichtete das «Wall Street Journal». Israel sei bereit, die Rückkehr von täglich 2000 Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder, in den Norden zuzulassen. Insgesamt bis zu 60 000 Palästinenser könnten nach einem von Israel als akzeptabel erachteten Vorschlag zurückkehren. Männer zwischen 18 und 50 Jahren wären davon aber ausgeschlossen.

Hamas beharrt auf ihren eigenen Forderungen

Die vor den Kämpfen in den Süden des Küstengebiets geflohenen Menschen müssten demnach israelische Militärkontrollpunkte passieren, damit bewaffnete Hamas-Kämpfer nicht erneut in den Norden Gazas eindringen, hiess es unter Berufung auf israelische und ägyptische Beamte weiter. Diese Bedingungen würden jedoch von der Hamas abgelehnt. Man werde in den Verhandlungen nicht von den eigenen Forderungen abweichen, teilte die Hamas am Samstag mit. Dazu zählen unter anderem ein dauerhafter Waffenstillstand, der Abzug von Israels Armee aus Gaza und die Rückkehr von Vertriebenen.

Netanjahu hat immer wieder deutlich gemacht, «bis zum totalen Sieg kämpfen» zu wollen. Auch lehnt er bisher jeglichen Plan für «den Tag danach» ab, der eine Übergabe der Macht im Gazastreifen in palästinensische Hände vorsieht. «Niemand weiss, wann und wie dieser Krieg enden wird», sagte Khaled Elgindy vom Middle East Institute in Washington dem US-Sender CNN.

Der israelische Oppositionsführer Jair Lapid wird unterdessen nach eigenen Angaben am Sonntag zu Gesprächen nach Washington fliegen. Das Verhältnis der US-Regierung zu Netanjahu hat sich deutlich abgekühlt, inzwischen treten die Konfliktlinien überdeutlich zutage - auch öffentlich. Spannungen bestehen vor allem wegen der Art der Kriegsführung und wegen der aus US-Sicht von Israel blockierten Lieferung ausreichender humanitärer Hilfe. Washington sucht deshalb die Nähe zu politischen Gegnern Netanjahus wie Lapid.

Experten warnen vor Anarchie in Gaza

«Israel kann sein erklärtes Ziel, die Hamas zu eliminieren, nicht erreichen, weil die Hamas ein integraler Bestandteil der palästinensischen Gesellschaft im Westjordanland und im Gazastreifen ist. Ihre Popularität hat in den vergangenen Monaten zugenommen», zitierte CNN am Samstag zudem den Nahost-Experten Nathan Thrall in Jerusalem. «Nachdem Israel erklärt hat, dass es die Hamas im Norden besiegt hat, sieht man, dass jede Woche israelische Soldaten im Norden sterben», sagte Thrall. Es sei offensichtlich, dass die Hamas auch nach dem Krieg existieren werde, ob Israel nun wie geplant in der mit Hunderttausenden Flüchtlingen überfüllten Stadt Rafah im Süden einmarschiert oder nicht.

Höchstwahrscheinlich werde es zu einer unbefristeten israelischen Militärpräsenz in Gaza kommen, sagte Elgindy dem Sender. «Es wird so etwas wie einen Zusammenbruch von Recht und Ordnung und immer mehr Chaos geben. Wir werden Warlords, Banden und Clans sehen (...) Gaza ist zu einem Ort geworden, der nicht wirklich lebenswert ist», wurde der Experte zitiert. Wenn es jemanden geben sollte, der glaubt, dass diese Situation den Israelis Sicherheit bringen werde, «dann ist das eine völlig wahnhafte Vorstellung», sagte Elgindy.

(AWP)