cash: Herr Kohler, wie steht es um die politische Kultur in der Schweiz?

Georg Kohler: Die politische Kultur ist niemals institutionell gesichert, sondern in einem gemeinsamen Geist verankert. Dieses sehr heterogene Land kann auf Dauer gar nicht stabil gehalten werden, ohne die Bereitschaft aller, immer wieder Kompromisse zu schliessen und sich einander anzupassen. Das heisst: Die politische ist eine zentrale Bedingung der schweizerischen Wohlfahrt. Und mir scheint, es war um die politische Kultur schon besser bestellt als heute.

Wie äussert sich das?

Offensichtlich sind wir von einer ausgeprägten Konsensdemokratie allmählich weggekommen zu einer Dissensdemokratie mit starken oppositionellen Bewegungen, die sich vor allem mit Hilfe der Volksrechte Nachachtung verschaffen können. Das kann auch gefährlich werden.

Woher kommt denn diese Entwicklung?

Es ist kein Zufall, dass die Konsenskultur der früheren Zeiten erodiert. Die Schweiz hatte einen ganz klaren Basiskonsens zwischen 1945 und 1990, der nun am Zerbröckeln ist aufgrund der veränderten Lage nach 1990. Das wird besonders deutlich an einem Begriff wie dem der schweizerischen Neutralität. Die Schweiz war in dieser Periode bestens aufgehoben im Rahmen des Westens. Wir waren neutral, bewaffnet, unabhängig und gleichzeitig Teil des Westens. So konnten wir unter der Hand von der Verteidigungsleistung des Nato-Paktes profitieren. Gleichzeitig konnten wir uns als unabhängig und selbstbestimmt neutral darstellen. Das geht so nicht mehr. Denn inzwischen sind wir von Freunden umzingelt. Zudem ist der Zwang zur internationalen Zusammenarbeit gewachsen. Deswegen wird speziell die Direkte Demokratie einer starken Belastungsprobe unterzogen. In einer Situation, in der die Verunsicherung wächst, kommt man nun aber mit relativ einfachen politischen Rezepten durch. Die SVP mit ihrem Strategen Blocher nutzt die Möglichkeiten der Massen- und Mediendemokratie in der heutigen Situation zielbewusst zu ihren Gunsten aus.

Arbeiten diese Akteure dem Konstrukt Schweiz entgegen?

Das würde ich so nicht sagen. Aus der Sicht der SVP geht es darum, diejenigen zu bekämpfen, welche die Unabhängigkeit und die Souveränität der Schweiz abschaffen wollen. Ich denke aber, dass wir auf lange Frist akzeptieren müssen, in einen grösseren Verband hineinzugehören. Die Frage ist, wie und in welcher Form wir uns aber die Direkte Demokratie erhalten können. Diese Diskussion ist detailliert nie geführt worden. Es ist ja nicht so, dass man bei bestimmten Anpassungen am eigenen System gleich dem Diktat Brüssels unterliegt. Diesbezüglich vereinfacht die SVP die Sache auf fahrlässige Art und Weise, indem sie ein Freund-Feind-Denken eingeführt hat - als ob die EU das Vierte Reich wäre. Das halte ich für riskant für den Schweizer Zusammenhalt. Dennoch: Der Streit muss geführt werden.

Mit welchem politischen Modell würde die Schweiz denn in die EU hineinpassen?

Wir müssen dieses Modell immer noch suchen. Gewisse Verluste sind aber in Kauf zu nehmen. Der Streitpunkt ist die Frage der automatischen Rechtsübernahme. Das heisst aber noch lange nicht, dass wir von Brüssel in allen Belangen dominiert werden, sondern es geht um eine Rechtsübernahme im Zusammenhang mit dem Wirtschaftsraum auf den wir doch angewiesen sind. Ich halte es für demagogisch, wenn man behauptet, bei einer Rechtsübernahme liefern wir uns den anderen schlicht aus und geben die Souveränität auf.

Angenommen, diese Isolationstendenzen verstärken sich. Was wären die Konsequenzen?

Der Wohlstand würde bestimmt leiden. Man darf nicht unterschätzen, dass gut organisierte KMU ins benachbarte Ausland abwandern würden, was auch Arbeitsplätze kosten würde.

Wäre das auch ein Verlust wirtschaftlicher Liberalität?

Nicht nur das. Auch ein Verlust der wirtschaftlichen Leistungskraft. Wir werden immer wieder Leute von aussen brauchen, denn die Schweizerinnen und Schweizer tendieren zur Überalterung.

Wie liberal ist die Schweiz überhaupt noch?

Gemessen an den grossen Massstäben Meinungsfreiheit und Handlungsfreiheit ist die Schweiz natürlich ein liberaler Staat. Zu einem liberalen Staat gehört aber auch der Respekt vor dem Anderen und das Interesse am Anderen, womit wir wieder bei der politischen Kultur wären. In dieser Hinsicht haben wir an Liberalität eingebüsst. Wenn man sich beispielsweise gewisse Foren im Internet anschaut und liest, wie Leute beschimpft werden, dann kriegt man das Grausen. Vielleicht ist der Staat immer noch sehr liberal, aber die Gesellschaft ist es nicht mehr.

Sind das die Folgen verschlechterter politischer Kultur?

Wenn die Politiker nicht mehr bereit sind, komplizierte Dinge in ihrer Komplexität anzunehmen und alles boulevardisiert wird, dann nimmt die politische Kultur Schaden. Das ist also auch ein Problem der Medien- und der Massendemokratie, in der viel mehr Leute als früher sehr rasch mobilisierbar sind. Für eine einigermassen rationale politische Kultur ist es aber schlecht, wenn primär nach dem spontanen Bauchgefühl reagiert wird.

Wohin geht die Schweiz? Schotten wir uns weiter ab oder hat diese Tendenz bald ein Ende?

Eben diese Auseinandersetzung wird jetzt geführt - und muss geführt werden. Wie sie ausgeht, weiss ich nicht. Die Befürworter einer Insularitäts-Strategie sind bereits stark, aber auch ihre Gegner werden allmählich aus dem Busch geklopft. Es kann jedoch durchaus sein, dass die Blocher-Schweiz weiterhin entscheidende Abstimmungen gewinnt, doch werden wir alle zahlen müssen. Denn ich bin der Meinung, dass Europa kein unrettbares Fehlkonstrukt ist. Die Idee der herkömmlichen Nationalstaaten ist zu Ende und die internationale Vernetzung wird immer stärker. Das führt zu Abhängigkeiten und der alte Unabhängigkeitsgedanke lässt sich schlicht nicht mehr fortsetzen.

Wie kann sich die Wirtschaft an dieser Diskussion beteiligen?

Indem sie sich klar macht, was die Konsequenzen wären und indem sie bereit ist, sich in entsprechenden Gremien gegen eine Isolationstendenz zu engagieren – zum Beispiel im Rahmen von Economiesuisse oder neuer Organisationen. Hoffentlich erkennt die Wirtschaft, dass es keine Abschottung von der Politik gibt.

 

Georg Kohler (*1945) war von 1994 bis 2010 ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Zürich mit besonderer Berücksichtigung der politischen Philosophie. Zu Kohlers Arbeitsgebieten gehörten unter anderem die Themen "Begriffe des Politischen" und "Was ist ein liberaler Staat?".