Angesichts der von Russlands Präsident Wladimir Putin angeordneten Eskalation des Angriffskrieges versuchte die Ukraine weitere internationale Hilfe zu mobilisieren. Selenskyj sprach mit US-Präsident Joe Biden, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und anderen westlichen Spitzenpolitikern. Bei den UN forderte die Ukraine die Weltgemeinschaft auf, die jüngste völkerrechtswidrige Annexion ihrer Gebiete im Süden und Osten durch Russland zu verurteilen.

Die Siebenergruppe führender westlicher Industriestaaten (G7) will am Dienstag in einer Videokonferenz über die verschärften russischen Angriffe auf zivile Ziele in der Ukraine beraten. Für das angegriffene Land ist es der 230. Kriegstag.

Selenskyj filmt auf offener Strasse in Kiew

"Die Besatzer können uns auf dem Schlachtfeld nicht entgegentreten und deshalb greifen sie zu diesem Terror", sagte Selenskyj zu den Angriffen. Sein abendliches Video wurde nicht, wie sonst üblich, im Präsidialamt aufgezeichnet. Der Staatschef stand nach eigenen Angaben an einer beschädigten Strassenkreuzung nahe der Universität von Kiew. Hinter ihm waren Bagger, Lastwagen und anderes Räumgerät zu sehen.

In vielen Städten seien die kommunalen Dienste dabei, die unterbrochene Strom- und Wasserversorgung zu reparieren, sagte Selenskyj. Er rief die Bevölkerung auf, möglichst keine Geräte mit grossem Verbrauch zu nutzen. "Je mehr Ukrainer Strom sparen, desto stabiler funktioniert das Netz." In der Hauptstadt fiel der Verbrauch nach Angaben des Versorgers Ukrenergo tatsächlich um gut ein Viertel niedriger aus als sonst an einem Herbstabend. Die Kiewer Polizei verstärkte in der Nacht zum Dienstag ihre Patrouillen.

Putin nannte den Raketenbeschuss eine Reaktion auf angebliche ukrainische Angriffe gegen russisches Gebiet. Am Samstag hatte eine Explosion die 19 Kilometer lange Brücke erschüttert, die Russland und die 2014 von Moskau annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim verbindet.

Biden sagt fortdauernde Unterstützung für Kiew zu

US-Präsident Biden sagte der Ukraine angesichts der massiven russischen Luftangriffe fortdauernde Unterstützung zu. Dazu gehörten auch weitere moderne Flugabwehrsysteme, wie er in einem Telefonat mit Selenskyj sagte. Bei den Rüstungslieferungen habe Flugabwehr derzeit die höchste Priorität, betonte auch der ukrainische Präsident. Die USA sollten auch Führung zeigen bei einer harten Haltung der G7 und bei Unterstützung für eine Verurteilung Russlands durch die UN-Vollversammlung, schrieb er nach dem Gespräch auf Twitter.

In seinem Video listete Selenskyj alle Gespräche mit internationalen Partnern wegen der Raketenangriffe auf. Er habe mit Kanzler Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Polens Staatschef Andrzej Duda und UN-Generalsekretär António Guterres gesprochen. Weitere Gespräche gab es mit den Regierungschefs Justin Trudeau (Kanada), Mark Rutte (Niederlande) und Liz Truss (Grossbritannien).

Ukraine ruft Vereinte Nationen wegen Annexionen an

Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson - diese vier ukrainischen Gebiete hat Moskau Ende September zu Teilen Russlands erklärt. Die Ukraine forderte am Montag in einer Dringlichkeitssitzung der UN-Vollversammlung, die völkerrechtswidrige Annexion zu verurteilen. "Die so genannten Referenden standen in keiner Beziehung zu dem, was wir Ausdruck des Volkswillens nennen - weder aus rechtlicher noch aus technischer Sicht", sagte der ukrainische UN-Botschafter Serhij Kislizia. Er forderte das grösste UN-Gremium zu einer Resolution auf, die von Russland verlangt, seine Handlungen rückgängig zu machen.

Russlands UN-Botschafter Wassili Nebensja beklagte indes eine "gefährliche Polarisation" bei den UN und eine Blockbildung, die die internationale Zusammenarbeit untergrabe. Am Ende der Sitzung, die bis Mittwoch dauern könnte, soll das mit 193 Mitgliedstaaten grösste UN-Gremium über die Resolution zur Verurteilung Moskaus abstimmen. Das Votum gilt als globaler Stimmungstest zum Ukraine-Krieg.

UN-Hilfswerk rechnet mit mehr Vertriebenen in der Ukraine

Wegen der Eskalation des russischen Krieges gegen die Ukraine rechnet das UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) mit neuen Vertriebenen. Wenn Menschen durch die Zerstörungen keine Bleibe, keine Heizung und Versorgung mehr hätten, werde die Zahl derer steigen, die andernorts Zuflucht suchen, sagte UNHCR-Chef Filippo Grandi in Genf.

Allerdings sei die Ukraine mit internationaler Unterstützung heute besser vorbereitet als zu Kriegsbeginn im Februar, Landsleute in den vom Krieg weniger betroffenen Landesteilen aufzunehmen. Deshalb bedeute die Eskalation nicht unbedingt eine neue Welle von Flüchtlingen in den Nachbarländern. In der Ukraine sind laut Grandi derzeit sechs bis sieben Millionen Menschen vertrieben. Rund vier Millionen Menschen hätten in anderen Ländern Schutzstatus beantragt.

Kiesewetter: Auch Deutsche auf längeren Krieg in Ukraine einstellen

Nach Ansicht des CDU-Aussenpolitikers Roderich Kiesewetter müssen die Menschen in Deutschland erkennen, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine länger dauern könnte. "Auch unsere Bevölkerung muss darauf eingestellt werden, dass dieser Krieg womöglich noch zwei Jahre gehen kann und dass er sich ausweitet", sagte er dem Sender Welt.

Ex-Finanzminister Wolfgang Schäuble stimmte die Menschen angesichts der Energiekrise auf Entbehrungen im Winter ein. "Darüber muss man nicht jammern, sondern man muss erkennen: Vieles ist nicht selbstverständlich", sagte Schäuble dem Sender Bild-TV. Auch sollte man ein paar Kerzen, Streichhölzer und eine Taschenlampe zu Hause haben - für den Fall eines Stromausfalls, riet der CDU-Politiker.

Das wird am Dienstag wichtig

Bei der G7-Videokonferenz nach den jüngsten russischen Angriffen wird auch Selenskyj sprechen. In New York läuft die Dringlichkeitssitzung der UN-Vollversammlung zur illegalen Einverleibung ukrainischer Gebiete durch Russland weiter. In Brüssel informiert Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg über ein für Mittwoch und Donnerstag geplantes Treffen der Verteidigungsminister.

In St. Petersburg trifft Russlands Präsident Putin laut Kreml den Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA). Rafael Grossi verhandelt nach eigenen Angaben mit Kiew und Moskau über eine Schutzzone um das von Russland eingenommene ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja, um die Gefahr eines Unfalls zu bannen./fko/DP/zb

(AWP)