cash.ch: Frau Hockenjos, trotz hoher Inflation, steigender Leitzinsen und eingetrübter Wachstumsaussichten haben die Aktienmärkte seit Mitte Juni an Boden gewonnen. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?

Fabienne Hockenjos: Erstens ist die Berichtssaison zum zweiten Quartal besser ausgefallen, als man dies zuvor angenommen hatte. Zweitens hat sich die Erwartungshaltung gegenüber der Geldpolitik deutlich neu ausgerichtet. So sind die gestiegenen Rezessionsrisiken eingepreist worden. Dies ist auch sichtbar in den erwarteten Leitzinserhöhungen. Gemäss Konsens wird in den USA bereits in sechs Monaten ein Leitzins-Peak bei 3,5 Prozent erreicht. In der Eurozone wird der Höhepunkt in etwa einem Jahr folgen. 

Die Marktteilnehmer setzen bereits wieder auf sinkende Zinsen?

Ja. Der Markt setzt angesichts der Rezessionsszenarien bereits wieder auf sinkende Leitzinsen. 

Sie sprechen damit die Renditen von Staatsanleihen an, die seit Mitte Juni zurückgekommen sind. Was signalisiert der Bondmarkt?

Das abnehmende Konjunkturmomentum wird jetzt auch in der Erwartung gegenüber der Geldpolitik eingepreist. Das hat zu einem deutlichen Rückgang der erwarteten Zinserhöhungen und damit auch der Anleiherenditen geführt. Im Grossen und Ganzen rechnet der Markt damit, dass in den USA bereits 2023 Zinssenkungen vorgenommen werden. Dies, obwohl Vertreter der US-Notenbank Fed am Dienstag sagten, dass man bereit ist, längere Zeit höhere Zinsen zu tolerieren. 

Erklärt dies auch, warum insbesondere zinssensitive Wachstumswerte jüngst stark zulegen konnten?

Genau. Mit dem Rückgang der Anleiherenditen ist es nicht erstaunlich, dass sich insbesondere Wachstumswerte stark erholt haben. Dieses Marktsegment hatte zuvor angesichts der steigenden Zinsen die grössten Einbussen erlitten. Dass sich der US-Technologieindex Nasdaq seit Mitte Juni über 17 Prozent erholt hat, ist ein Ausdruck vom Auslöser dieser Minirally am Aktienmarkt.

Mit welcher Entwicklung rechnen Sie an den Aktienmärkten bis Ende Jahr?

Unser Basisszenario ist eine moderat wachsende Weltwirtschaft mit regionalen Rezessionen. Die USA befinden sich bereits in einem technischen Abschwung. Die Wahrscheinlichkeit für eine Rezession in der Eurozone liegt unserer Ansicht nach bei über 50 Prozent. Doch die Aktienmärkte haben vieles davon bereits vorweggenommen. Daher sind wir vorsichtig optimistisch, wobei viele Risiken bestehen. Das restliche Jahr wird durch sehr hohe Volatilität geprägt sein. Wir sind daher mit einer neutralen Aktienquote unterwegs und haben uns defensiver ausgerichtet und europäische Werte abgebaut. Insbesondere bei zyklischen Werten sind wir vorsichtiger geworden.

Was sind die grössten Marktrisiken für nächsten Monate?

Eine vollumfängliche Energieversorgungskrise in Europa ist am Markt nicht abgebildet und birgt entsprechend eines der grössten Rückschlagspotenziale. Wenn die Lage in Taiwan eskaliert, wäre dies ein zusätzliches riesiges Risiko, da der Konflikt im schlimmsten Fall die Dimension eines Weltkrieges annehmen könnte. Zudem besteht die Gefahr, dass die Inflation nicht wie erwartet zurückkommt. Dieses Szenario könnte zu einer restriktiver als erwarteten Geldpolitik und schlussendlich einer harten Landung der Wirtschaft führen. Es besteht auch die Gefahr, dass der US-Konsument wegen der Inflation sein Ausgabeverhalten ändert. Dieser potenzielle Rückgang des zyklischen Konsums ist an den Märkten noch nicht eingepreist. 

Welche Schweizer Titel würde ein Rückgang des zyklischen Konsums besonders belasten?

Tendenziell würden hier Konsumtitel unter Druck geraten. In der Schweiz könnte dies beispielsweise Richemont oder Autoneum unter Druck bringen. Neben zyklischen Konsumgütern wie Automobile oder Luxusgüter könnten jedoch auch Konsumtitel des täglichen Bedarfs betroffen sein. 

Was bedeutet die konjunkturelle Gemengenlage für die Gewinnentwicklung der Unternehmen?

Die Gewinnschätzungen sind im Moment sehr zuversichtlich. Die Berichtssaison für das zweite Quartal war besser als erwartet. Die Unternehmen konnten die Margen dank einer hohen Kostendisziplin schützen. Die hohe Inflation und das sich verschlechternde konjunkturelle Umfeld werden aber wohl noch zu Revisionen der Konsensgewinnschätzungen für die kommenden Quartale führen. 

Wachstumswerte gehörten im bisherigen Jahresverlauf an den Börsen trotz jüngster Erholung zu den grössten Verlierern. Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit Anlegerinnen und Anleger in diesem Marktsegment wieder zukaufen können?

Eine gute Visibilität auf die Geldpolitik ist eine Grundvoraussetzung für eine gute Performance für die Wachstumswerte. An dem Punkt sind wir jedoch noch nicht angelangt. Wir setzen in diesem Bereich weiterhin auf qualitativ hochstehende Wachstumswerte. Damit sind Unternehmen gemeint, die bereits heute profitabel sind. Gerade in unsicheren Zeiten ist dies eine gute Strategie. 

Wo sehen Sie bei Wachstumswerten Opportunitäten am Schweizer Markt?

Logitech, das stark unter die Räder gekommen ist, ist auf dem gegenwärtigen Kursniveau wieder spannend. Das gleiche gilt für Lonza, VAT und Tecan. Lonza lieferte beispielweise gute Halbjahreszahlen und dürfte langfristig dank hohen Investitionen zweistellig wachsen. Tecan hat ein starkes Portfolio und punktet mit einer führenden Nischenposition und VAT ist unangefochtener Markführer mit hohem Bezug zum stark wachsenden Halbleitersektor.

Welche Anlagestrategie empfehlen Sie den Anlegerinnen und Anleger im aktuellen Marktumfeld?

Das Wichtigste in diesem volatilen Marktumfeld ist, dass man seiner Anlagestrategie treu bleibt. Anlegerinnen und Anleger sollten nicht das Portfolio unter der Annahme umschichten, dass man den Markt mit anderen Strategien timen kann. Disziplin bei der Analagestrategie ist meine grösste Empfehlung. Ebenso ist ein diversifiziertes Portfolio mit einer Beimischung von Obligationen, alternativen Anlagen und Immobilien ein Schlüsselelement, um die Verlustrisiken zu minimieren.

Wie wirkt sich die hohe Inflation auf die Anlagestrategie aus?

Man muss die Inflation bei einem Investitionsentscheid mitberücksichtigen, da eine Geldentwertung ganz real auf dem Bankkonto stattfindet. Sich vom Markt wegen der grossen Volatilität fernzuhalten und auf Cash zu setzen, kann zum Bumerang werden: Man hat nicht nur Opportunitätskosten, falls es zu einer Markterholung kommt, das Parken in Cash gibt auch keine Chance auf den Ausgleich der Geldentwertung. Klar kann man in der Schweiz die Inflation von 3,5 Prozent als Risikoprämie sehen, doch als Anleger in der Eurozone oder den USA mit einer Teuerung von 8 bis 9 Prozent nimmt die Geldentwertung ein Ausmass an, das bei der Vermögensentwicklung schlichtweg weh tut.

Trotz der gestiegenen Zinsen sollten Anlegerinnen und Anleger investiert bleiben?

Die tiefen Realzinsen sprechen immer noch für Realwerte wie Aktien oder Immobilien. Man hört immer wieder die Frage, ob es TINA - "There is no Alternative" zu Aktien - noch gibt. Sicherlich sind Investitionen in Obligationen wieder attraktiver. Doch die hohe Inflation führt dazu, dass TINA noch länger Gültigkeit hat, da die Realrenditen bei den Obligationen noch zu tief sind.

Auf welche Faktoren muss bei der Titelauswahl geachtet werden?

Im gegenwärtig inflationären Umfeld ist die Preissetzungsmacht wichtig. Und Qualität, wie eine solide Bilanz, Kontinuität der Cashflows oder hohe Renditen auf dem investierten Kapital, gewinnt in diesem Umfeld an zusätzlicher Attraktivität. Zudem setzen wir stark auf das Thema Nachhaltigkeit. Die Zukunftsfähigkeit der Geschäftsmodelle ist immer ein Kernbestandteil bei den Auswahlkriterien.

ESG ist ein fundamentaler Bestandteil bei Ihrer Finanzanalyse. Bringt dies bezüglich der Rendite keinen Nachteil mit sich?

Im Gegenteil. Im Normalfall ist das Abwärtsrisiko geringer. Und in Anbetracht der Zukunftstrends, wie Energiewende, Digitalisierung oder Demografie kommen mit dem Einbezug von ESG neue Opportunitäten zum Vorschein. Aber es ist immer ein Zusammenspiel. Ein Titel kann auch so stark hochgeschossen sein, dass aus finanztechnischen Gründen kein Zukauf getätigt wird. 

Welche Schweizer Titel sollten Anleger auf ihren Kauflisten haben?

Georg Fischer bietet Opportunitäten. Die Transformation zu einem weniger zyklischen Industriekonzern mit einem stabilen und margenstarken Geschäft mit Rohrleitungssystemen wird am Markt noch unterschätzt. Georg Fischer ist fast schuldenfrei und hat den finanziellen Spielraum für Übernahmen. Eine ABB, Holcim und Sika sind ebenfalls Werte, die in ein Portfolio gehören und gerade durch den teilweise starken Kursrückgang Opportunitäten eröffnen. Holcim und Sika dürften von anhaltenden Infrastrukturinvestitionen profitieren und ABB ist führend bei technologischen Trends wie Digitalisierung oder Automatisierung dabei.

Die Verschuldung von Unternehmen rückt mit den steigenden Zinsen wieder in den Fokus…

Die Schuldensituation von Unternehmen wird in Anbetracht steigender Zinsen und Rezessionsgefahren wieder vermehrt in den Fokus rücken. Unternehmen mit guten Bilanzen können eine Krisensituation besser überstehen.

Die Credit Suisse hat das zweite Quartal erneut mit einem grossen Verlust abgeschlossen. Die Grossbank hat mit Ulrich Körner einen neuen CEO ernennt und will Kosten sparen. Wie ordnen Sie die Situation der CS ein?

Zwar könnte man sagen, dass nach der Neuausrichtung und dem Managementwechsel ein Kauf möglich wäre. Doch der Konzernumbau stellt die Grossbank vor neue massive Herausforderungen. Die Stossrichtung ist sicherlich gut, doch das neue Management muss sich erst einmal finden und steht unter Beweispflicht. Daher glauben wir trotz der tiefen Bewertung nicht an eine nachhaltige Outperformance.

Und wie sehen Sie Finanztitel im aktuellen Marktumfeld? 

Wir haben eine neutrale Sicht auf Finanzwerte. Wir präferieren die UBS gegenüber der Credit Suisse, setzen aber vielmehr auf Alternativen zu den Grossbanken. Einerseits den Versicherungssektor, wo Zürich oder Swiss Life spannende Investitionsmöglichkeiten darstellen, andererseits Alternativen wier Partners Group, die stark unter Druck gekommen ist.

Bei welchen Aktien empfehlen Sie einen Verkauf?

Dazu gehört U-Blox, das eher etwas für sehr risikoaffine Investoren ist. Das Risiko wird bei diesem Titel auf absehbare Zeit nicht adäquat entschädigt. Sonova sehen wir nach der jüngsten Erholung kritisch. Das Unternehmen ist zwar gut unterwegs, doch wir sehen Probleme bei der Innovationskraft und der Konkurrenz durch Anbieter von rezeptfreien Hörgeräten. Zudem wirft der Einstieg in das Konsumgütersegment gewisse Fragen auf.

Bitcoin hat in der aktuellen wirtschaftlichen Krise eindeutig nicht die Vorteile gebracht, die seine Verfechter ihm immer unterstellt haben. Taugen Kryptowährungen zur Diversifizierung im Portfolio etwas?

Die Krise brachte hervor, dass Kryptowährungen eine sehr hohe Korrelation mit Risikoanlagen aufweisen. Es ist eine spekulative Anlageklasse. Wir warnten immer schon davor, Bitcoin als neues Gold zu bezeichnen, da man keine Prognostizierbarkeit und keinen unterliegenden fundamentalen Wert hat. Mit dem heutigen Stand bei den Kryptowährungen würden wir unserer treuhänderischen Pflicht als Vermögensverwalter nicht nachkommen, wenn wir Kryptowährungen in das Portfolio aufnehmen würden. Kryptowährungen haben eine grosse Zukunftsfähigkeit, aber es bedarf weiterer Anpassungen und Entwicklungen. Es wird sehr viel Regulierung auf diesen Markt zukommen. 

Es gibt auch Kritiker, die Bitcoin mit einem Schneeballsystem vergleichen. Was halten Sie von dieser Meinung?

Ich kann die Verwendung des Ausdrucks "Schneeballsystem" auf Bitcoin nachvollziehen, da die Rarität nur so lange wertvoll ist, solange die Nachfrage besteht. Der Wert eines Picasso ist nicht allein auf die Rarität zurückzuführen, sondern es spielen auch andere Aspekte eine Rolle. Kryptowährungen sind eine spekulative Anlageklasse mit Opportunitäten und Risiken. Sie sind heute auch noch keine eigentliche Währung, diese Eigenschaft dürfte sich jedoch über die Zeit etablieren.

Im Gegensatz zu Bitcoin hat sich Gold mit einem diesjährigen Kursminus von knapp 2 Prozent teilweise als Inflationsschutz bewährt. Mit welcher Entwicklung können Anlegerinnen und Anleger bis Ende Jahr rechnen?

Der Goldpreis wird aktuell entgegengesetzten Kräften geprägt. Gold gilt als Krisen- und Inflationsschutz, was in der aktuellen Lage den Preis stützt. Dagegen bringt Gold keine Rendite, was bei steigenden Zinsen zum Nachteil wird. Und die Erstarkung des Dollars hat den Goldpreis zurückgebunden. Letztere beiden Faktoren führten dazu, dass Gold trotz des unsicheren Umfelds weniger stark als erwartet abgeschnitten hat. Diese Entwicklung wird vermutlich in den nächsten Monaten anhalten, so dass ein Seitwärtstrend zu erwarten ist.  

Fabienne Hockenjos ist seit Juni 2020 Anlagechefin bei der Basellandschaftlichen Kantonalbank (BLKB). Davor war sie im Unternehmen unter anderem als Head Investment Research tätig. Zu ihren früheren Stationen zählt die Notenstein La Roche Privatbank sowie der Versicherungskonzern Baloise

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