"Der Feind greift in der Siedlung Sjewjerodonezk an", erklärte der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte am Donnerstag. Auch andere Teile im Osten und Nordosten der Region würden beschossen. Dem britischen Verteidigungsministerium zufolge haben die russischen Truppen Sjewjerodonezk grösstenteils eingenommen. Das Ufer des Flusses Siwerskji Donez zwischen der Industriestadt und ihrem Zwilling Lyssytschansk sei aber weiter unter der Kontrolle der Ukraine. In beiden Orten hätten ihre Soldaten Brücken zerstört. Sollte das russische Militär die Städte einnehmen, hätte es die Region Luhansk, die zusammen mit der Region Donezk den Donbass bildet, vollständig unter Kontrolle. Der russische Präsident Wladimir Putin hätte damit ein wichtiges Ziel erreicht.

Bei den Kämpfen im Nordosten und Osten von Sjewjerodonezk wurden nach offiziellen Angaben zuletzt mindestens vier Zivilisten getötet und zehn verletzt. Russland bestreitet, dass seine Soldaten auf die Zivilbevölkerung zielen.

Das britische Verteidigungsministerium erklärte in seinem täglichen Geheimdienstbericht, russische Einheiten hätten den grössten Teil von Sjewjerodonezk bereits unter Kontrolle. In der Stadt ist unter anderem Chemieindustrie ansässig. Vor dem Krieg, der mit dem russischen Einmarsch am 24. Februar begann und am Freitag 100 Tage dauert, lebten in Sjewjerodonezk rund 101'000 Menschen. Nach Schätzung des Gouverneurs der Region Luhansk harren noch rund 15'000 Zivilistinnen und Zivilisten in der Stadt aus.

Weitere Militärhilfe für Ukraine

Im Kampf gegen die russischen Streitkräfte erhält die Ukraine immer mehr militärische Unterstützung aus den USA und EU-Ländern. Die Slowakei kündigte am Donnerstag an, sie werde acht Haubitzen liefern. Es handele sich um den Typ Zuzana 2, eine modernisierte Version eines älteren Modells, teilte das slowakische Verteidigungsministerium mit. Die Haubitzen hätten je nach Munition eine Reichweite von 40 bis 50 Kilometer. Zuvor hatte US-Präsident Joe Biden die zusätzliche Lieferung fortschrittlicher Raketensysteme angekündigt. Die Ukraine hält das Artillerie-Raketensystem M142 High Mobility Artillery Rocket (HIMARS) für entscheidend bei der Abwehr russischer Raketenangriffe. Die Regierung in Moskau reagierte mit scharfer Kritik und warnte vor einem erhöhten Risiko einer direkten Konfrontation zwischen USA und Russland.

Biden wollte im Laufe des Tages mit Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Washington beraten. Dieser will in den nächsten Tagen ein Treffen in Brüssel mit hochrangigen Vertretern aus Schweden, Finnland und der Türkei einberufen. Bei den Beratungen solle es um den Widerstand der Regierung in Ankara gegen die Nato-Aufnahmeanträge Schwedens und Finnlands gehen, sagte Stoltenberg.

Ungarn blockiert sechstes EU-Sanktionspaket

Widerstand kam auch erneut von Ungarn gegen das gerade erst vereinbarte sechste gegen Russland gerichtete Sanktionspaket der Europäischen Union. Ungarn forderte drei EU-Diplomaten zufolge am Mittwochabend Änderungen und blockierte damit das Inkrafttreten der Strafmassnahmen. Ungarn habe darauf bestanden, dass das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill, von der Liste der mit Sanktionen belegten Personen gestrichen wird. Grund dafür ist, dass Kirill, der enge Beziehungen zu Putin unterhält, den russischen Angriff auf die Ukraine unterstützt.

Nach wochenlangem Widerstand des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban hatten sich die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfel am Montag und Dienstag im Grundsatz auf neue Strafmassnahmen verständigt, die auch ein Embargo gegen den Import russischen Erdöls beinhaltet. Ungarn, das abhängig von russischen Energielieferungen ist, setzte dabei durch, dass Öllieferungen per Pipeline zunächst vom Importstopp ausgenommen sind. Am Mittwoch sollte die Vereinbarung in einen Rechtstext gegossen werden, damit sie in Kraft treten kann.

Das Ölembargo der EU wird Russland zufolge die Märkte destabilisieren. "Brüssel und seine politischen Sponsoren in Washington tragen die volle Verantwortung für das Risiko einer Verschlechterung der weltweiten Nahrungsmittel- und Energiesituation, die durch die unrechtmässigen Schritte der Europäischen Union verursacht werden", teilte das russische Aussenministerium mit.

(Reuters)