cash: Herr Sandner, Ihre Meinung zu Blockchain oder Bitcoin ist derzeit recht oft zu lesen oder zu hören. Was fasziniert die Leute so sehr an diesen Themen?

Philipp Sandner: Das Thema Blockchain geht mit einer ungeheuren Geschwindigkeit voran. Das führt dazu, dass sich etablierte Institutionen gar nicht so schnell einarbeiten können. Gerade weil sich im deutschsprachigen Raum wenige Leute mit dem Thema beschäftigen, landen viele bei uns. Die klassischen Hochschulen und Forschungsinstitute haben das Thema Blockchain praktisch noch nicht entdeckt.

Wie schaffen Sie es, bei dem hohen Tempo an Veränderungen am Ball zu bleiben?

Das wird zunehmend schwieriger, weil das Thema immer interdisziplinärer wird. Es sind fast alle Branchen betroffen: Von Gesundheit bis Logistik, aber auch viele Disziplinen von Informatik über Recht bis Betriebswirtschaft.

Roger Wattenhofer, einer Ihrer Professorenkollegen an der Zürcher ETH, sagte kürzlich, Blockchain-Technologie sei ein Hype, der sich wieder legen werde. Sind Sie einverstanden?

Bei solchen Diskussionen ist immer die Zeitdimension entscheidend: Was passiert wann? Wir haben seit rund anderthalb Jahren einen Hype rund um Blockchain. Es ist aber noch keine Hysterie. Dieses und nächstes Jahr wird das Thema weiterhin heiss bleiben, bevor dann eventuell 2019 eine Beruhigung eintritt. Aber dass sich der Hype nicht bestätigt, weil die Technologie nicht einhält, was sie verspricht, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

Was macht Sie so sicher?

Die Blockchain-Technologie hat sehr viel Potenzial. Und zwar nicht nur, um hie und da einen kleinen Geschäftsprozess zu verändern, sondern um auf voller Breite ganze Industrien zu verändern. In den Industrie- wie in den Entwicklungsländern. Ob man allerdings heute die besten Anwendungen schon kennt, ist eine andere Frage.

In der Schweiz machte die Stadt Zug Schlagzeilen, indem sie früh Bitcoin-Zahlungen akzeptierte. Viel mehr als ein PR-Gag war das bisher aber nicht.

Ich sehe das auch so, finde aber zwei Dinge bemerkenswert: Erstens findet in Zug das Thema tatsächlich statt. Zweitens widerspiegelt das einen kulturellen Wandel, der durch die ganze Administration geht. Denn im Hintergrund wurden Stadtrat, Angestellte, Buchhalter 'mitgenommen', damit eine Bitcoin-Zahlung an eine staatliche Verwaltung überhaupt möglich sein würde, auch wenn sie kaum genutzt wird. Das ist ein wichtiges Element, damit sich die Region Zug und Zürich als Epizentrum für die Krypto-Branche positionieren kann. Und der Staat hilft mit.

Derzeit finden fast im Tagesrhythmus Blockchain-Konferenzen und Startup-Initiativen statt. Besteht nicht die Gefahr, dass man sich in der Aufbauarbeit verzettelt?

Gerade bei jungen Leuten erzeugen Kryptowährungen und die Blockchain-Technologie eine unglaubliche Faszination. Bei der zweitgrössten Kryptowährung Ethereum gibt es inzwischen 60’000 Leute, die Ethereum programmieren können. Die haben sich das alles selber beigebracht, ohne dass eine Universität sie das gelehrt hätte. Ja, die vielen Events sind Teil des Hypes, sie tragen aber zu einer Wissensverbreitung bei. In den USA besitzen mittlerweile anscheinend 8 Prozent der Bevölkerung Kryptowährungen. Das wären rund 24 Millionen Menschen.

Immer wieder wird kritisiert, die Blockchain-Technologie habe ein Kapazitätsproblem, was sich beispielsweise auf die Übertragungsgeschwindigkeit auswirkt. Wie kann dieses Problem gelöst werden?

Technische Probleme hat man bisher immer in den Griff bekommen. Nehmen Sie die Entwicklung des Internets: Heute schauen wir überall Videos an und vor 15 Jahren hatten wir noch ISDN-Leitungen. Bei der Blockchain-Technologie ist man momentan noch in einem sehr frühen Stadium. Man muss aber immer die zwei Domänen 'Enterprise' und 'Public' auseinanderhalten. Im Unternehmenssektor ist die Transaktionsgeschwindigkeit kein grosses Problem. Für Unternehmen spräche aus technischer Hinsicht nichts gegen den Einsatz von Blockchain. Hier sind eher Regulierungen oder fehlendes Wissen die Hürden. Im 'Public'-Bereich, wo auch die Kryptowährungen dazugehören, sind die Geschwindigkeiten jedoch ein Hindernis.

Es gibt andere dezentrale Systeme wie zum Beispiel Hashgraph, die als technisch ausgereifter gelten. Sind die Tage von Blockchain gezählt, bevor sie richtig begonnen haben?

Dahinter steht die Frage, was die Blockchain-Technologie ausmacht. Ihr Kernmerkmal ist erstens die Synchronisation von Informationen in einem grösseren Rechnernetzwerk. Und zweitens die Verkettung von Daten mittels Kryptographie. Ob man das mittels Blockbildung wie bei Bitcoin macht oder mittels anderer Ansätze wie bei Hashgraph oder bei IOTA, ist zweitrangig.

Derzeit ist noch kein grosses Blockchain-System in Anwendung. Wann könnte es soweit sein?

Es gibt natürlich schon bestimmte Nischen. Zum Beispiel internationalen Zahlungsverkehr über Bitcoin wie es das Berliner Startup Bitbond macht. Dann gibt es bei der Deutschen Bahn ein Blockchain-System zur Protokollierung von Stromtransaktionen. Bis grosse Anwendungen in Kraft treten, dauert es aber sicher noch ein halbes Jahr – oder länger.

Ich behaupte, das rege Interesse an vielen Kryptowährungen ist grösstenteils auf Kursspekulationen zurückzuführen und nicht auf die Faszination für die Blockchain-Technologie. Sehen Sie das auch so?

Leider ja. Aber glücklicherweise sind diese Krypto-Investoren meist auch gewillt und in der Lage, die Technologie dahinter zu verstehen. Ansonsten kann man gar nicht investieren, weil der Vorgang so kompliziert ist. Versuchen Sie mal, für zehn Euro Ethereum zu kaufen. Das ist ein Prozess, der aus rund 30 Schritten besteht. Dafür interessieren sich meist nur junge, zumeist männliche Akademiker, um es etwas zu verallgemeinern. Man darf aber nicht vergessen: Wenn neues Geld ins System fliesst, kommt das zum Beispiel Startups zugute, die Blockchain-basierte Projekte vorantreiben. Allein dadurch entstehen bessere Technologien und auch die Fähigkeiten, Anwendungen zu programmieren, entwickeln sich so weiter.

Ist dieses komplizierte Vorgehen ein Hinderungsgrund, damit sich eine Kryptowährung durchsetzen kann?

Was man als Kryptowährungen bezeichnet, sind ja genau genommen in den meisten Fällen keine Währungen. Ich bin eher der Meinung, dass man von einer eigenen Anlageklasse sprechen kann. Aber zu Ihrer Frage: Bis jetzt basierte der Boom bei den 'Crypto Assets' vor allem auf privaten Investoren. Wenn aber dieses Ökosystem noch weiter wachsen soll, dann geht das nicht ohne institutionelle Investoren. Und für diese reichen die jetzigen Strukturen nicht aus. Es gibt kaum eine Bank, die in der Lage ist, das Thema Verwahrung von Kryptowährungen anzubieten.

Wie könnte man das erreichen?

Das ist aus meiner Sicht die Aufgabe des Regulators, wenn er es denn haben möchte. Professionelle Infrastruktur für institutionelle Investoren gibt es Stand heute in Europa erst zum Beispiel in Liechtenstein oder in der Schweiz – und selbst dort ist alles noch in einem frühen Entwicklungsstadium.

Welchen dieser verschiedenen Krypto-Anlagen trauen Sie eine besonders gute Entwicklung zu?

Ich finde das Projekt Ethereum sehr spannend. Hier kann man Geld oder andere Anlagen transferieren und ich kann diese Vorgänge programmieren. Ich kann zum Beispiel Treuhandprozesse, Kreditvergaben oder Dividendenzahlungen programmieren. Das sind zwar alles Dinge, die wir in Europa nicht unbedingt brauchen. Aber solche Basis-Finanzdienstleistungen können dort interessant sein, wo die Leute noch gar keinen Zugang zu einem Finanzsystem haben. Ich denke hier an über zwei Millarden Menschen in Entwicklungsländern, die keinerlei Zugang zu rudimentären Finanzdienstleistungen haben. Auch weil dadurch Korruption, wie sie in vielen Entwicklungsländern vorkommt, umgangen werden kann. Auch den Ansatz von IOTA aus Berlin finde ich spannend, auch wenn er technisch noch nicht zu Ende gedacht ist. Und NEO aus China ist interessant, weil man da intelligente Verträge, also Smart Contracts, in Kombination mit herkömmlichen Währungen umsetzen kann.

Wird sich ein Blockchain-System etablieren können, das den herkömmlichen Banken das Geschäft wegfrisst?

In Europa kann ich mir das beim besten Willen nicht vorstellen, weil es keinen Grund gibt, beispielsweise das Euro-Zahlungssystem durch eine Blockchain zu ersetzen. Aber es gibt zwei bis drei Milliarden Menschen auf der Welt, die noch keinen Zugang zu grundlegenden Finanzdienstleistungen haben. Zudem gibt es weitere Anwendungsbereiche. Zum Beispiel kann man sich fragen, wer in Zukunft Zahlungen zwischen zwei Maschinen abwickelt. Da könnte die Blockchain-Technologie eine wichtige Rolle spielen.

Können Sie sich vorstellen, dass sich aus dem Krypto-Bereich ein neues Zahlungsmittel durchsetzt?

Wiederum: In Europa nicht. In Ländern mit einer hohen Inflationsrate haben Ethereum, Dash oder Bitcoin dagegen durchaus Chancen. Aber auch dann eher nicht für die tagtäglichen Zahlungen. Ein weiterer Vorteil der Blockchain ist ja, dass sie Eigentum transportabel macht.

Wie realistisch schätzen Sie die Möglichkeit ein, dass Nationalbanken eigene Kryptowährungen ausgeben?

Das macht bisher wenig Sinn, weil die technischen Möglichkeiten begrenzt sind. Für Euro- oder Franken-Zahlungen wird viel mehr Performance benötigt, als heute vorhanden ist. Momentan wird in diesem Bereich vor allem viel experimentiert und getüftelt.

Für viel Aufmerksamkeit sorgte auch die grosse Welle an Initial Coin Offerings, also ICO. Wird hier von regulatorischer Seite her genügend gemacht?

Wer in ICO investiert, muss wissen, dass das ein Startup-Investment ist. Das sind mitnichten sichere Anlagen. Dieser Markt muss meiner Meinung nach reguliert werden. Und zwar unter anderem an den Eintritts- und Austrittspunkten. Das heisst, bei den Kryptobörsen, wo man beispielsweise Schweizer Franken in Krypto-Münzen tauscht. Hier muss im Bereich Identifikation strenger reguliert werden, um Geldwäscherei und Korruption zu verhindern. Ansonsten bestand bisher beschränkter Handlungsbedarf, da momentan praktisch nur Wissende in ICO investieren. Die Zahl schützenswerter Individuen, die nicht wissen, auf welches Risiko sie sich einlassen, steigt aber stetig. Daher wird Regulierung hier wichtiger. Regulierung darf aber nicht 'generelles Verbot' heissen. Dafür ist die Technologie zu wichtig.

Derzeit arbeiten viele Länder weltweit an Regulierungen für Fintech- oder Blockchain-Unternehmen. Würde in dieser stark vernetzten Branche nicht eine globale Regulierung am meisten Sinn machen?

Im Idealfall schon. Aber ich kann mir das beim besten Willen nicht vorstellen. Die Meinungsverschiedenheiten der einzelnen Länder sind Stand heute zu gross.

Was ist die grössere Gefahr für das herkömmliche Finanzsystem: Die Blockchain-Technologie oder Technologie-Riesen wie Facebook oder Google?

Es geht gar nicht nur um die Blockchain, sondern auch um künstliche Intelligenz und Datenanalytik. Diese drei Bereiche zusammen können einer Bank gefährlich werden. Es gibt in diesem Umfeld aber auch Chancen, nicht nur Risiken. Aber die müsste man jetzt ergreifen. Auch gegen die etablierten US-Giganten wird man nur mit eigenen florierenden Unternehmen dagegenhalten können. Das würde aber bedeuten, dass man in Europa entsprechende Firmen aufbaut und fördert. Mit der Blockchain-Technologie, die in Berlin, Zug und Zürich ihre europäischen Zentren hat, hat man momentan die Chance, weltweit führend zu werden. Aber seitens der Regulatoren müssen nun europaweit die richtigen Weichen gestellt werden.

Prof. Dr. Philipp Sandner (geboren 1980) ist im deutschsprachigen Raum der wohl meistzitierte Blockchain-Experte. Er leitet das Frankfurt School Blockchain Center an der Frankfurt School of Finance & Management. Zu seinen Themengebieten gehören insbesondere die Blockchain-Technologie und deren Einsatz in verschiedenen Branchen, aber auch Digitalisierung, Entrepreneurship und Innovation. Sandner studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim und an der Copenhagen Business School. 2009 promovierte er an der Munich School of Management der Ludwig-Maximilians-Universität München zum Thema "The Valuation of Intangible Assets".