Es dauerte nur wenige Stunden, bis Olaf Scholz nach seiner Vereidigung als Kanzler seine künftige Russlandpolitik in eine alte sozialdemokratische Tradition stellte - die der Ostpolitik. Als Antwort auf harte Töne etwa aus den USA forderte der SPD-Politiker eine Doppelstrategie, die die Unverletzbarkeit der Grenzen betont und gleichzeitig die Dialogbereitschaft mit Moskau demonstriert. Ein ums andere Mal verwies er dabei auf die sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt und deren Entspannungspolitik in den 1970er Jahren - und sorgte damit prompt für Kritik.

"Die Nutzung des Begriffs Ostpolitik ist sehr unglücklich", sagt etwa Gwendolyn Sasse, Direktorin des Osteuropa-Instituts Zois in Berlin. In der SPD sei der Begriff zwar sehr positiv besetzt. "Aber die Reaktion in Mittel- und Osteuropa ist sehr negativ." Der Begriff wecke sofort wieder Misstrauen über einen deutschen Alleingang mit Russland über die Köpfe etwa Polens hinweg. "Wer heute von Ostpolitik spricht, ist einer Illusion erlegen", kritisiert CDU/CSU-Fraktionsvize Johann Wadephul. Russland sei anders als die damalige Sowjetunion und wolle bewusst Grenzen neu ziehen.

Prompt steuerte Scholz am Mittwoch in seiner ersten Regierungserklärung nach: "Das darf aber nicht missverstanden werden als eine neue deutsche Ostpolitik", betonte der Kanzler. "Ostpolitik kann im vereinten Europa nur eine europäische Ostpolitik sein." Auch SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich sagt zu Reuters, zur Ostpolitik gehöre, in der EU und mit osteuropäischen Partnern eine gemeinsame Position für Russland und die gesamte Region zu entwickeln.

Warum Scholz in einer Zeit der russischen Truppenzusammenballung vor der Ukraine überhaupt auf die Chiffre "Ostpolitik" zurückgreift, erklärt sich vor allem mit der Haltung seiner Partei zu Russland. Zwar distanzieren sich die meisten Sozialdemokraten von Altkanzler Gerhard Schröder, der in russischen Diensten bei der Ostsee-Gaspipeline steht. Aber in den letzten Jahren wurde in der SPD immer wieder gemurrt, die CDU-Politikerin Angela Merkel habe sich nicht genug um Dialog mit Moskau gekümmert und sei deshalb mitverantwortlich für ein Abdriften des Landes. Scholz oder SPD-Parteivize Manuela Schwesig wiederum wehren sich dagegen, dass etwa die Ostsee-Gas-Pipeline Nord Stream 2 jetzt in die Sanktionsdebatte gerät.

Diese Position weckt in Osteuropa zusätzliches Misstrauen. Und auch die Grünen wollten im Wahlkampf eigentlich einen härteren Kurs gegenüber Moskau. Der aussenpolitische Sprecher der Union, Jürgen Hardt, prophezeit, dass Kanzler und Aussenministerin Annalena Baerbock bei Russlands Präsident Wladimir Putin noch erleben würden, dass dieser Konflikte mit dem Westen geradezu als Teil seiner Überlebensstrategie ansehe und die Hoffnung auf Dialog deshalb trügerisch sei.

Brandt als Referenzpunkt

Doch in der SPD dient die Überfigur Brandt mit seiner Entspannungspolitik als Referenzpunkt, um die eigene Zurückhaltung in militärischen Konflikten zu begründen. "Die Scholz-Erinnerung an frühere SPD-Kanzler ist deshalb verständlich", sagt der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, "Scholz steht unter dem Druck seiner eigenen Partei", meint der Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Stefan Meister. Der historische Bezug beruhige die Gemüter.

Allerdings sei entscheidend, dass Scholz auch Schmidt genannt habe, betonen beide. Denn Schmidt habe auch für den Nato-Doppelbeschluss gestanden, also für Entschlossenheit gegenüber Moskau. "Brandt und Schmidt wussten ganz genau, dass es keinerlei Chance auf Erfolg im Umgang mit der Sowjetunion geben würde, wenn man den Dialog aus der Perspektive eigener Schwäche führen würde", betont Ischinger. Jetzt sei er relativ zuversichtlich, dass die Ampel-Koalition unter Scholz den Dialog mit Moskau in der Tradition Brandt/Schmidt führen könne – "also so, dass Moskau nicht den Eindruck gewinnt 'Wir haben sie weichgekocht'".

Scholz und sein Umfeld seien eher transatlantisch geprägt, meint auch DGAP-Experte Meister. "Er ist nicht so gefühlsgetrieben wie viele Ostpolitiker, sondern eher sehr rational, pragmatisch bei diesem Thema." Tatsächlich betonte Kanzler Scholz in seiner Regierungserklärung nicht nur die feste Bindung Deutschlands an Nato und USA, sondern unterschrieb auf dem EU-Gipfel die Warnung von "massiven Konsequenzen" im Falle einer russischen Aggression. Auch SPD-Fraktionschef Mützenich weist Vorwürfe zurück, die Sozialdemokraten sähen Moskau zu wohlwollend. "Wir sind nicht naiv und wissen, mit wem wir es im Falle Russlands zu tun haben", betont er gegenüber Reuters. "Gleichwohl lohnt es, sich zu verdeutlichen, was die andere Seite als Sicherheitsbedrohung empfinden könnte, ohne dass man deren Haltung teilt." In der SPD gebe es ein Grundverständnis, dass man neben dem "unmissverständlichen Aufzeigen von Grenzen" die Sichtweise Russlands auf Nato und EU zur Kenntnis nehmen müsse. Man müsse einen Ausweg aus dem Teufelskreis der Eskalation finden.

Deshalb lobte Scholz auch das dritte Element der Entspannungspolitik - nämlich die Einbindung Moskaus in ständige Verhandlungen wie bei der KSZE Mitte der 70er Jahre. Zuvor hatte US-Präsident Joe Biden vorgeschlagen, zusammen mit vier grossen Nato-Staaten und Russland gemeinsam über eine Sicherheitsarchitektur in Europa zu sprechen.

(Reuters)