Obwohl er den Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 selbst angeordnet hatte, schob Putin in seiner Rede zum wiederholten Mal dem Westen die Schuld an dem Krieg zu. "Sie haben den Krieg losgetreten", sagte er in Richtung westlicher Staaten. Russland versuche lediglich, die Kämpfe zu beenden, behauptete der Kremlchef in seiner Ansprache vor der Föderalen Versammlung. Diese setzt sich aus der Staatsduma und dem Föderationsrat zusammen. Auch Kirchenführer wie der russisch-orthodoxe Patriarch Kirill, Militärs und Künstler hörten der Rede in Moskau zu. Es gab viel Beifall für den Präsidenten; es waren aber auch viele reglose und versteinerte Mienen zu sehen.
Einmal mehr sagte Putin, in der Ukraine sei ein "Neonazi-Regime" an der Macht. Die "militärische Spezialoperation" - wie Moskau den Krieg bezeichnet - werde fortgesetzt. "Schritt für Schritt, sorgfältig und konsequent, werden wir die vor uns liegenden Aufgaben lösen." Der 70-Jährige kündigte dazu auch eine Modernisierung der russischen Armee an. "Der Ausstattungsgrad der nuklearen Abschreckungskräfte Russlands mit neuesten Systemen beträgt jetzt 91,3 Prozent", sagte er. Dieses Qualitätsniveau solle auch in den anderen Teilen der Streitkräfte erreicht werden.
Den Kriegsteilnehmern und ihren Familien sagte Putin finanzielle Hilfe zu. Ebenso versprach er den annektierten Gebieten im Osten und Süden der Ukraine Wiederaufbau und Arbeitsplätze. Es werde neue Programme zur Entwicklung der vier "neuen Subjekte" geben. Bisher kontrolliert Russland nur einen Teil der völkerrechtswidrig annektierten Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson. Die Ukraine hat angekündigt, die Gebiete wieder zu befreien.
Durch die westlichen Sanktionen wegen des Kriegs habe sich Russland nicht erschrecken lassen, sagte Putin. "Sie wollen das Volk zum Leiden bringen, um so unsere Gesellschaft zu destabilisieren. Aber ihre Rechnung ist nicht aufgegangen." Nach seinen Worten haben sich "die russische Wirtschaft und das Verwaltungssystem als viel stärker erwiesen als vom Westen erwartet". Für diese Woche haben die EU und die USA neue Sanktionen angekündigt. Der Westen betont, dass die Sanktionen sich nicht gegen die Menschen in Russland richteten, sondern den Krieg in der Ukraine stoppen sollten.
In der Ukraine kommentierte der Chef des Präsidentialamtes, Andrij Jermak, Putins Rede auf Telegram so: "Sie (die Russen) sind strategisch in einer Sackgasse. Unsere Aufgabe ist es, sie aus der Ukraine herauszuhauen und sie für alles zu bestrafen."
Für Putin war es seine 18. Rede an die Nation. Zuletzt hatte er sie im April 2021 gehalten. Im vergangenen Jahr war sie ausgefallen; der Kremlchef hatte dies nach Kriegsbeginn mit der "Dynamik der Ereignisse" erklärt. Am Dienstag war die Rede auch eine Art Fernduell mit US-Präsident Joe Biden. Dieser wollte nachmittags in der polnischen Hauptstadt Warschau zum bevorstehenden Jahrestag des Ukraine-Kriegs sprechen. Am Vortag hatte Biden Kiew besucht und der Ukraine weitere Unterstützung zugesagt.
Beim Vertrag "New Start" warf Putin den USA ein "Theater des Absurden" vor - weil Washington Moskau beschuldigt, keine Experten zur Inspektion der atomaren Verteidigungsanlagen ins Land zu lassen. Wenn in Zeiten solcher Spannungen jemand im Westen erwarte, dass Russland diesen Zugang gewähre, sei das "Blödsinn", sagte Putin.
Der Abrüstungsvertrag "New Start" ist das einzige noch verbliebene grosse Abkommen zur Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland. Er begrenzt die Atomwaffenarsenale beider Länder auf je 800 Trägersysteme und je 1550 einsatzbereite Sprengköpfe. Zudem ist geregelt, dass Washington und Moskau Informationen über ihre strategischen Atomwaffenarsenale austauschen und bis zu 18 Verifikationsbesuche pro Jahr abhalten dürfen.
Die Aussetzung des Vertrags begründete Putin damit, dass Frankreich und Grossbritannien ihre Atomwaffenarsenale angeblich weiter entwickelten und ihre Nuklearpotenziale gegen Russland ausrichteten. Putin wertete auch Äusserungen der Nato zu "New Start" als Einmischung und Grund, den Vertrag zu überdenken./haw/DP/nas
(AWP)