cash.ch: Didier Saint-Georges, Sie sind in Paris und arbeiten wie so viele von zuhause aus. Wie wird sich die Krise in Frankreich entwickeln?

Didier Saint-Georges: Ich denke, nicht viel anders als in anderen europäischen Ländern. Frankreich wird besonders beim Export und beim Tourismus getroffen. Das Problem ist: Wir haben auch hier diesen "glockenförmigen" Verlauf der Neu-Infektionen mit dem Coronavirus. Aber diese "Glocke" ist nicht symmetrisch: Einem steilen Anstieg der Fälle folgt jetzt ein langsameres Abflachen.

Was bedeutet dies aus Ihrer Sicht für die Finanzmärkte?

Ich fürchte, dass die Märkte die Kurve falsch verstehen, jetzt, wo der Peak wohl überschritten ist. Die Märkte könnten glauben, dass die Abnahme der Infektionszahlen ebenso exponentiell sein wird wie davor die Zunahme. Aber so ist es ja nicht. Auch das öffentliche und wirtschaftliche Leben wird nur langsam in Gang kommen, wenn die Einschränkungen schrittweise gelockert werden.

Hinsichtlich der wirtschaftlichen Erholung wachsen die Zweifel, ob diese «V-förmig» sein wird. Gehören auch Sie zu den Skeptikern?

Ja, ich bin sehr skeptisch. Wenn die Infektions-"Glocke" symmetrisch wäre, würde dies eine V-Erholung befeuern. Doch selbst wenn wir die Einschränkungen morgen aufheben würden, gingen die Leute nicht sofort zur Normalität über. Die Wahrnehmung der Risiken einer Ansteckung bleiben sehr gross, und Unternehmen sind bestrebt, ihre Bilanzen zu sanieren, statt Geld auszugeben. Daher ist es unausweichlich, dass die Erholung langsam vonstattengehen wird.

Ergibt die Betrachtung mit «V», «W», «U» oder «L» überhaupt so viel Sinn?

Zunächst wird das "V" oft nicht korrekt beschrieben. In der Erholung wird die Wachstumsrate zu Beginn vom Basiseffekt profitieren, der durch das zunächst sehr deutliche Negativwachstum entsteht. Ein anfängliches Wachstum wird optisch wie ein "V" aussehen. Aber dann wird die nachhaltige Wachstumsrate langsamer sein als vor der Krise; das ist es, was zählt. Und ja, diese "Buchstaben"-Szenarien sind eher Schnickschack.  

Carmignac ist ein Fondshaus und verwaltet Vermögen. Inwieweit haben Sie wegen der Coronaviruskrise die Anlagestrategie geändert?

Entweder hatten wir Glück, oder wir haben das grosse Ganze richtig verstanden: Schon vor der Krise bewerteten wir die Wirtschaft als schwach. Wir hielten sie für instabil. 2009 bis 2019 hatte sich die globale Wirtschaft nur moderat erholt, trotz massiver Unterstützung durch die Zentralbanken und sehr niedriger Zinssätze. Überall war der Einsatz von Fremdkapital sprunghaft angestiegen. Unsere Strategie war 2018 und 2019, Aktien von hoch verschuldeten und damit verwundbaren Firmen zu meiden. Wir konzentrierten uns auf Firmen mit starken Bilanzen und Geschäftsmodellen, die auch in Krisenzeiten bestehen können.

Carmignac ging also rechtzeitig defensiv.

Ja, mit Unternehmen der Medizinaltechnik, dem Gesundheitssektor oder der Technologie. Diese Firmen profitieren von strukturellen Trends. Oder Firmen mit einem extremen Wettbewerbsvorteil wie Google und Facebook. Der Top-End-Luxusgüterhersteller Hermès, von dem wir eine grosse Position halten, hat einmalige Produkte und Kunden, die weniger von der Rezession betroffen sind.

Wie wird sich der Tech-Sektor dieses Jahr noch entwickeln?

Ein Teil des Tech-Sektors lebt davon, dass Leute zuhause arbeiten. Auch e-Commerce lebt von der Situation, und treibt nicht nur Amazon, sondern beispielsweise auch das lateinamerikanische Äquivalent Mercado Libre an. Technologie kombiniert mit Handel oder Vertrieb wird also durch die Situation unterstützt.

Sehen Sie weitere Tech-Treiber?

Wir werden noch viel mehr Kapazitäten brauchen, um online zu kommunizieren oder zu handeln. In der Werbung wiederum spielt das Prinzip "The Winner Takes it All" letztlich für Facebook und Google. In einer Krise werden die Schwachen schwächer und die Starken stärker.

Werden Tech-Aktien ihre Vor-Krisen-Levels bald überbieten – oder laufen sie einfach weniger schlecht als andere Aktien?

Amazon und Netflix bewegen sich ja schon bei ihren Allzeithochs. Facebook und Google wiederum können in einem Szenario mit schwachem Wachstum und sehr tiefen Zinsen profitieren, wenn sie solides Umsatzwachstum vorlegen. Es gibt auch viele weniger bekannte Akteure, die sehr gut positioniert sind, insbesondere in China. Aber solches Stock Picking setzt natürlich viel Disziplin voraus.

Carmignac zeigt sich positiv zu China. Warum soll man dort investieren, gerade jetzt, wo das Misstrauen gegenüber China wohl eher wächst?

Es wird viel Kritik gegenüber China geben, weil in den USA ein Wahljahr ist, und weil es einfach ist, China zu beschuldigen. Schwellenmärkte, inklusiv China, werden unweigerlich unter sinkenden Exporten leiden, aber insgesamt vielleicht weniger als die entwickelten Volkswirtschaften, wenn ihre Binnennachfrage solide bleibt. Das ist sehr ungewöhnlich.

Was leiten Sie daraus ab?

In den USA machen Dienstleistungen 80 Prozent der Wirtschaftsleistung aus, in China 60 Prozent. Damit haben stark aufstrebende Wirtschaften wie China plötzlich einen Vorteil, weil in dieser Krise die Sektoren der Grundversorgung stärker betroffen sind als die Sektoren der verarbeitenden Industrie. In China gab es auch jahrelang das Risiko von Kapitalabflüssen. Jetzt ist es nicht mehr attraktiv, von China aus in Europa oder den USA zu investieren und zu reisen. Auch wenn die Lage  für China nicht einfach ist, unterschätzen Anleger möglicherweise die Tatsache, dass China im Binnenmarkt über eine starke Perspektive verfügt.

Mehr Zuwendung zur heimischen Wirtschaft könnte es in vielen anderen Ländern geben, denn es wird eine «Re-Nationalisierung» der Produktion wichtiger Güter wie Medikamenten oder medizinischen Materials gefordert – gerade auch in Frankreich. Wie sollen Anleger damit umgehen?

Widerstand gegen die Globalisierung haben wir ja schon vor der Krise gesehen. Die Krise könnte diesen Trend verstärken. Allerdings ist die Lage komplizierter, als man denkt. In den USA etwa gab es im Zuge des Handelskonflikts mit China wenig Rückführung von Industrien. Länder wie Vietnam, Thailand oder Mexiko haben mehr profitiert als die USA.

Aber der politische Druck wird stark sein.

Für Unternehmen zählen immer noch die Kosten. Es wäre vielleicht anders, wenn europäische oder US-Firmen mehr Preissetzungsmacht hätten: Dann könnten sie stärker im Inland produzieren. Aber in der Krise wird die Preissetzungsmacht ja eher schwächer.

Didier Saint-Georges ist Mitglied des Strategic Investment Committee und Managing Director beim Vermögensverwalter Carmignac Gestion in Paris.