Genaue Zahlen gibt es nicht, doch beide Seiten sprechen von hohen Verlusten. Russland habe den Flecken zu einer "Hölle auf Erden" verwandelt, klagt der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak. Laut Präsident Wolodymyr Selenskyj sind beide Städte völlig zerstört. "Es ist sehr schwer: Es sind dort kaum noch intakte Wände übrig", beschrieb der 44-Jährige die Lage vergangene Woche.
Nach den schmerzhaften Niederlagen im Herbst, als russische Truppen sich aus dem Gebiet Charkiw im Norden und später aus Cherson im Süden der Ukraine zurückziehen mussten, hat die Attacke auf Bachmut und Soledar dem Kreml zumindest medial wieder Oberwasser gesichert. Wie wichtig Moskau die verkündete Einnahme Soledars ist, lässt sich am erbitterten Streit ablesen zwischen Verteidigungsministerium und dem Finanzier der Wagner-Truppe, Jewgeni Prigoschin, wer sich den Erfolg ans Revers heften darf. Der Streit offenbart ein Kompetenzgerangel, das für den weiteren Krieg aus russischer Sicht bedenklich ist.
Militärisch ist die russische Einnahme Soledars, die Kiew weiterhin bestreitet, allenfalls ein taktischer Erfolg. Zwar gehört die Stadt, die vor dem Krieg etwas mehr als 10 000 Einwohner hatte, zum Festungswall, der östlich des Ballungsraums zwischen Slowjansk und Kramatorsk aufgebaut wurde. Doch auch dahinter gibt es noch weitere Abwehrlinien. "Die ukrainische Verteidigung bricht nicht zusammen", meint der frühere russische Geheimdienstoffizier Igor Girkin, der unter dem Pseudonym Strelkow 2014 den Aufstand der Separatisten im Osten der Ukraine anführte. Slowjansk und Kramatorsk seien der am besten ausgebaute Festungsraum in der Ukraine, sagt er.
Die kolportierte Forderung von Kremlchef Wladimir Putin an seinen neuen Oberbefehlshaber in der Ukraine, Waleri Gerassimow, den Donbass bis März einzunehmen, lässt sich nur mit frischen Kräften erreichen. Deshalb nehmen Spekulationen um eine neue Mobilmachung zu - trotz der fast täglichen Dementis aus dem Kreml.
Eine neue Grossoffensive kann Moskau wohl nur nach einer weiteren Mobilmachung angehen. Dabei ist es egal, ob das russische Militär dazu weiter auf Frontalangriffe im Donbass oder Umgehungsmanöver aus Saporischschja im Süden und eventuell sogar aus Belarus im Norden setzt. Alle drei Varianten kursieren unter Militärexperten - doch ohne Verstärkungen ist keiner dieser potenziellen Schläge erfolgversprechend.
Verhandlungen scheinen dabei derzeit aussichtsloser als je zuvor. Von ihren politischen Zielen sind beide Seiten weit entfernt. Kiew will die Russen ganz aus dem eigenen Land vertreiben - einschliesslich der bereits 2014 annektierten Halbinsel Krim. Moskau hingegen beansprucht den Donbass und die im Herbst annektierten südukrainischen Gebiete Saporischschja und Cherson vollständig für sich, kontrolliert diese aber nur zum Teil. Die jeweils geäusserten Vorbedingungen für die Wiederaufnahme des Dialogs sind unrealistisch, solange es keine Veränderungen an der Front gibt.
Kiew hofft, diese Veränderungen mit westlicher Waffenhilfe zu erzwingen. Dabei setzt die Ukraine speziell auf das Treffen der Verteidigungsminister im deutschen Ramstein Ende der Woche.
"300 Panzer, 700 Schützenpanzer und 500 Haubitzen", hatte Generalstabschef Walerij Saluschnyj in einem Interview mit dem britischen "Economist" als Zielmarke für eine erfolgreiche Grossoffensive ausgegeben. Tschechien beginnt, 100 generalüberholte T-72 zu liefern. Polens Präsident Andrzej Duda hofft darauf, dass die europäischen Staaten 100 Leopard-Panzer bereitstellen können. 14 liefert Polen selbst, doch fehlt dazu weiter das Ja aus Berlin.
Zudem könnten diese wegen fehlender Wartung nicht sofort an die Front rollen. Es könnte mit der erforderlichen Ausbildung der Besatzungen und dem Aufbau der Logistik für Munition und Ersatzteile noch Monate dauern, bis diese wirklich in den Einsatz gehen. Das ist zu spät für die erhoffte ukrainische Frühjahrsoffensive.
Und Kiew gehen nach den massiven Verlusten um Soledar und Bachmut offenbar auch langsam die Soldaten aus. Die seit Kriegsbeginn laufende Mobilmachung wird allem Anschein nach intensiviert. Im Kiewer Stadtteil Holossijiw sollen sich bei Strafandrohung alle Männer im wehrfähigen Alter bis Monatsende beim Kreiswehrersatzamt melden. In sozialen Netzwerken machen Videos die Runde, wie auf den Strassen der Grossstädte Odessa, Charkiw und Mykolajiw Vorladungen verteilt werden. Zugleich beteuert das Verteidigungsministerium beständig, dass es keinen Zusatzbedarf gebe.
Russland habe aufgrund seiner Grösse weiter einen Vorteil bei den menschlichen Ressourcen, konstatiert der ukrainische Militärexperte Oleh Schdanow. "Wir zermürben den Gegner und geben ihm keine Gelegenheit, Reserven zu bilden", erklärt er das lange Ausharren der Ukrainer in Orten wie Bachmut. Bestehen könne die Ukraine nur, wenn sie weiter beständig russische Truppen vernichte und gleichzeitig selbst Reserven bilden könne. Wann neue ukrainische Truppen für einen Gegenschlag eingesetzt werden, wagt aber auch er nicht zu sagen.
"Sobald wir genügend Kräfte für einen Gegenschlag gesammelt haben, wird der Generalstab die Gegenoffensive beginnen, dabei müssen die Verluste der russischen Armee maximal hochgehalten werden", so Schdanow. Denn ein vorzeitiges Losschlagen beispielsweise in Saporischschja, wo seit Monaten über einen ukrainischen Vorstoss Richtung Meer spekuliert wird, könnte fatal und in einem Gegenstoss enden. Die nächsten Wochen werden zeigen, welche Seite zuerst fähig ist, die nötigen Ressourcen an einem Frontabschnitt zu bündeln./bal/DP/nas
(AWP)