cash.ch: Herr Krämer, die Inflation erreichte im Mai in Deutschland einen Rekordwert von 7,9 Prozent. Das ist wohl noch nicht das Ende der Fahnenstange, oder?

Jörg Krämer: Vielleicht doch. Ab 1. Juni gibt es für drei Monate das 9-Euro-Ticket. Genau so lange werden die Steuern auf Benzin und Diesel gesenkt. Diese beiden Massnahmen sollten die Inflationsrate für drei Monate um ein knappes Prozentpunkt senken. Daher dürften wir im Mai den Höhepunkt bei der Inflation gesehen haben.

Aber am Gesamtbild ändert dies nichts…

Natürlich nicht. Der unterliegende Preisdruck, also die Kerninflation, bleibt sehr hoch. Auf den vorgelagerten Stufen, also im verarbeitenden Gewerbe, hat sich der Preisauftrieb bis zuletzt beschleunigt, und zwar auf mehr als 33 Prozent. Das gab es nicht einmal im Koreakrieg in den 1950er Jahren. Diese Kostenlawine haben die deutschen Unternehmen noch lange nicht vollständig an die Konsumenten weitergegeben. Hinzu kommt: Auch die Löhne werden stärker steigen. Die Inflation in Deutschland wird im Verlauf des nächsten Jahres nur deshalb  zurückgehen, weil die Mineralölpreise nicht mit der gleichen Geschwindigkeit steigen dürften wie in diesem Jahr.

Wie schlägt sich die Teuerung auf die Stimmung der Konsumenten nieder?

Die Stimmung der Konsumenten ist gemessen am GfK-Konsumklimaindex eingebrochen. Das liegt aber wohl weniger an der Inflation, sondern vielmehr am Krieg in der Ukraine. Nichtsdestotrotz regen sich viele Bürger natürlich über die hohe Inflation auf.

Der Krieg in der Ukraine hat irgendwie seine Schreckenswirkung verloren. Teilen Sie diese Einschätzung?

Es ist ein gewisser Gewöhnungseffekt eingetreten. Am Anfang zeigte die Europäische Union noch eine grosse Geschlossenheit. Das bröckelt langsam. Schauen Sie bloss, wie lange es gedauert hat, bis man sich auf dieses halbherzige Ölembargo geeinigt hat. Damit ist ein Gasembargo unwahrscheinlich geworden. 

Kürzlich stand in einem Marktkommentar eines Vermögensverwalters, die Europäische Zentralbank habe die Inflation zuerst 'geleugnet, dann heruntergespielt und schliesslich als vorübergehend abgetan'. Trifft das zu?

Ja. Vor allem das Wort 'vorübergehend' hat doch eine gewisse Berühmtheit erlangt. Ich konnte das Wort am Ende nicht mehr hören, damit hat die EZB die damals bereits sichtbaren Inflationsprobleme heruntergespielt. Eine Vertreterin der EZB hatte sogar einzelne deutsche Medien angegriffen und ihnen vorgeworfen, Inflationspanik zu verbreiten. Tatsächlich waren die Warnungen berechtigt, und die EZB lag falsch.

Nun will EZB-Präsidentin Christine Lagarde vorwärts machen. Ein Ende der Netto-Wertpapierkäufe sei 'sehr früh' im dritten Quartal zu erwarten, eine erste Zinsanhebung sei im Juli möglich, schrieb sie letzte Woche. 

Lagarde hat angekündigt, den Einlagensatz bis Ende des dritten Quartals aus dem negativen Bereich zu führen. Das würde zwei Zinserhöhungen zu 25 Basispunkten bedeuten. Darüberhinaus hat sie für die Zeit danach in Aussicht gestellt, den Leitzins schrittweise auf das sogenannte neutrale Niveau anzuheben, bei dem der Leitzins die Konjunktur weder anschiebt noch bremst. Nach Aussagen vieler EZB-Ratsmitglieder liegt dieser neutrale Zins zwischen 1 und 1,5 Prozent. 

Ist der neutrale Zins wirklich so niedrig?

Ich bezweifle das. Denn ein neutraler Zins von 1 bis 1,5 Prozent impliziert bei einem Inflationsziel von 2 Prozent einen gleichgewichtigen Realzins im negativen Bereich. Das widerspricht der Vorstellung, dass man Konsumverzicht real belohnen und nicht bestrafen sollte. Ich orientiere mich dagegen konservativ an den langfristigen realen Wachstumsaussichten des Euroraums und addiere dann das Inflationsziel von zwei Prozent hinzu. Dann komme ich auf einen neutralen Zins von 2,5 bis 3 Prozent. Aber vermutlich muss die EZB sogar über den neutralen Zins hinausgehen, um das tiefgreifende Inflationsproblem zu lösen. Ich bezweifle jedoch, dass die EZB das tun wird.

Warum?

Weil die EZB auf die hochverschuldeten Staaten schielt, die sich niedrige Zinsen wünschen. 

Was auch der Grund des langen Zögerns war.

Ja, wobei die niedrige Inflation in den Jahren vor Corona den vielen Anhängern einer lockeren Geldpolitik Argumente geliefert hat.

Wiederholt sich die Geschichte mit Blick auf die Ereignisse vor über zehn Jahren?

Die Ursachen der Staatsschuldenkrise, die über zehn Jahre zurückliegt, wurden nicht richtig gelöst, insbesondere nicht in Italien. Daher bleibt dies immer ein Thema. 

Das Schreckgespenst der Stagflation, also einer Phase hochbleibender Inflation bei gleichzeitiger Konjunktureintrübung, macht die Runde. Wie schätzen Sie das ein?

Ich kann mir gut vorstellen, dass die Wirtschaftshistoriker die zehn Jahre, die vor uns liegen, einmal als Stagflation bezeichnen werden. Ich erwarte, dass die Inflation im Euroraum über mehrere Jahre über der Marke von 2 Prozent liegen wird, weil die EZB nicht entschieden dagegen vorgeht. Inflation haben wir also schon. Dazu kommt ein sich abschwächendes Wirtschaftswachstum. Denken Sie an die De-Globalisierung aufgrund der zunehmenden politischen Frontstellung zwischen dem Westen und China. Das dürfte das Wachstum der Produktivität dämpfen. Hinzu kommt der sinkende Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter. Daher dürfte das Wirtschaftswachstum der nächsten zehn Jahre im Schnitt merklich niedriger liegen als in den vergangenen zehn Jahren. 

Für viele Unternehmensführer, mit denen wir in der Schweiz sprechen, ist De-Globalisierung oder Unsicherheiten im Markt China aber oft kein Thema. Es wird fast schon tabuisiert. Wie ist das in Deutschland?

Die These der De-Globalisierung ist nicht unumstritten, auch unter Ökonomen. Unter deutschen Mittelständlern ist es aber ein grosses Thema. Trotzdem fragen sich viele, wer China als Beschaffungs- und Absatzmarkt ersetzen soll. Ich halte die De-Globalisierung für einen Trend der kommenden Jahre, auch wenn ich das nicht gut finde. So sind in den USA sowohl Demokraten als auch Republikaner chinakritisch eingestellt. Das wird langfristig Spuren in den Handelsbeziehungen hinterlassen. Der Welthandel dürfte langsamer wachsen als das globale Bruttoinlandsprodukt. Für Exportnationen wie Deutschland oder die Schweiz ist dies natürlich ein Thema. Es gibt ja den Begriff des 'Friend-Shoring'…

Also dort produzieren, wo man Freunde hat.

Ja. Die ehemalige Chefin der US-Notenbank, Janet Yellen, hat den Begriff ins Spiel gebracht. Es gibt auch Umfragen, wie sich Unternehmen dazu stellen. Rund ein Drittel der Firmen sagt, dass sie die Produktion nach Europa oder sogar ins eigene Land oder die eigene Firma zurückholen wollen. Zudem haben sich viele Unternehmen nach Ausbruch des Krieges freiwillig aus Russland zurückgezogen, sich also selbst sanktioniert – vor allem aus Reputationsgründen. Ich kann mir daher nicht vorstellen, dass wirtschaftlicher Austausch und Handel unbeeinflusst von politischen Konstellationen stattfindet. Schon gar nicht, wenn immer mehr Wähler in den westlichen Ländern moralisch argumentieren.

Noch zu den USA: Einige Experten sind der Meinung, dass sich die USA wegen des überraschenden Rückgangs des Wachstum im ersten Quartal bereits in einer Rezession befänden. Teilen Sie die Einschätzung?

(seufzt) Ach nein, der Rückgang war eindeutig durch Sonderfaktoren getrieben. Die US-Wirtschaft läuft immer noch sehr gut. Auf jeden Arbeitslosen kommen fast zwei offene Stellen. Der Lohnanstieg nimmt zu. Aber die Zinserhöhungen der US-Notenbank werden das Wachstum in der Zukunft dämpfen. Drei von vier Zinserhöhungszyklen endeten in den USA sogar in einer Rezession. In der zweiten Hälfte des nächsten Jahres werden wir in den USA nahe an die Rezessionsschwelle herankommen. 

Seit der Veröffentlichung der letzten Fed-Protokolle, welche keine bösen Überraschungen bei den Zinsschritten implizierten, sehen wir wieder einigen Optimismus an den Börsen. War vorher zu viel Pessimismus in den Märkten?

Bei den US-Privatinvestoren ist der Pessimismus laut Umfragen sehr ausgeprägt. Das ist insofern gut, als dass viele von ihnen Aktien schon verkauft haben und weitere Verkäufe damit unwahrscheinlicher werden. Aber in den USA wird sich das Wachstum abschwächen, Rezession hin oder her. China leidet unter seiner Null-Corona-Politik. Und in Europa senken die hohen Energiepreise die Kaufkraft. All diese Risiken sprechen für negative Überraschungen bei den Unternehmensgewinnen. Ich glaube nicht, dass die Aktienmärkte schon alle Probleme verdaut haben.

Es sind so viele negative Dinge passiert in letzter Zeit. Haben Sie aus wirtschaftlicher Sicht eine positive Message?

Danke für die Frage, es ist in der Tat nicht alles negativ. Denken Sie daran, dass die Auftragsbücher der Unternehmen in Deutschland so prall gefüllt sind wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen Anfang der 1960er Jahre. Wollten die Firmen die Auftragsbestände über die nächsten zwei Jahre auf das Normalmass abbauen, würde dies das Bruttoinlandsprodukt in diesen zwei Jahren rechnerisch um zwei Prozent erhöhen. Es ist viel an zurückgestauter Nachfrage da. Daher glaube ich, dass uns eine klassische Rezession erspart bleibt, wozu es in den USA kommen könnte. 

Jörg Krämer (geb. 1966) ist seit 2006 Chefökonom und Leiter Research bei der Commerzbank, Deutschlands zweitgrösster Bank. Der promovierte Volkswirtschaftler arbeitete nach seiner Ausbildung an der Universität Münster und am Kieler Institut für Weltwirtschaft bei Merrill Lynch, bei Invesco und bei der Bayerischen Hypo- und Vereinsbank.