"Das grosse Rätselraten der Devisenexperten", lautete zu Jahresbeginn eine Schlagzeile bei cash. Damals stand der Euro bei 1.17 Franken, und bei den Prognosen waren sich die Experten uneins. Sie reichten von 1.14 Franken pro Euro bis Ende 2018 bei der Commerzbank bis zu Schätzungen von 1.28 Franken bei Morgan Stanley.
Zwar ist das Jahr noch nicht zu Ende - doch beim aktuellen Stand des Währungspaares liegen so ziemlich alle Prognosen falsch. Konnte im Mai zwischenzeitlich noch die 1.20-Grenze nach oben durchbrochen werden, ist der Euro derzeit gerademal 1.,1250 Franken wert. Vergangenen Freitag wurde mit 1.1237 gar der tiefste Kurs seit Mitte 2017 erreicht.
Kursentwicklung Euro-Franken in den letzten 52 Wochen, Quelle: cash.ch
Die Rückkehr der Frankenstärke kam in diesem Jahr in zwei Wellen, die auch in der Grafik oben gut sichtbar sind: Aufgrund der problembehafteten Regierungsbildung in Italien fiel der Euro im Mai von 1.20 auf 1.15 Franken. Im August folgte der nächste Fall von 1.15 auf unter 1.13, bedingt durch die Krise der türkischen Lira und der befürchteten Ansteckungsgefahr für Europäische Banken.
Ein Kurs von unter 1.10 denkbar
Der Franken hat seinen Status als sicherer Hafen also beileibe nicht verloren. Und der Aufwertungsdruck könnte weiter anhalten: "Solange die Unsicherheit in Italien noch nicht vom Tisch ist, kann sich der Euro zum Franken weiter abschwächen", sagt Devisenspezialist Tim Sprissler von der Credit Suisse auf cash-Anfrage. Konkret gehe es um den Budgetentwurf, den Italiens Regierung Ende September vorlegen will. "Dieser birgt Konfliktpotenzial, sollte damit die von der EU vorgegebene Defizitgrenze überschritten werden."
Die EU hat die Obergrenze für das jährliche Haushaltsdefizit für ihre Mitgliedsländer bei drei Prozent der Wirtschaftsleistung angesetzt. Vize-Regierungschef Luigi di Maio und andere italienische Regierungsmitglieder pochen darauf, diese Grenze zu überschreiten, was für Knatsch mit der EU sorgen und die ohnehin schon kritische finanzielle Situation Italiens verschlimmern würde. Immerhin zeigen sich neuerdings Teile der Regierung Italiens doch willens, die Budgetgrenze zu befolgen: Vize-Ministerpräsident Matteo Salvini von der Rechtaussenpartei Lega will unter dem EU-Limit bleiben, die Grenze aber möglichst ausloten (cash berichtete).
Hält sich Italien tatsächlich an das Budget, könnte sich die Situation zumindest kurzfristig etwas entspannen. Trifft dies ein und bleibt es auch um die Türkei ruhig, so glaubt Thomas Stucki an eine Erholung des Euro-Kurses zum Franken in den nächsten Wochen. Doch diese Euro-Stärkung soll nur kurzer Natur sein: "Spätestens bei der nächsten grösseren Geschichte um Europa oder um die europäischen Banken wird der Euro gegenüber dem Franken aber weiter verlieren, so dass im nächsten Jahr die Marke von 1.10 im Euro-Franken-Kurs wieder erreicht wird", schreibt der Anlagechef der St. Galler Kantonalbank (SGKB) in einem Kommentar.
Wie wird die SNB regieren?
Ein Fall auf 1.10 oder sogar darunter wäre ein herber Rückschlag für die Schweizerische Nationalbank (SNB), die den Franken in den letzten Jahren mittels Interventionen am Devisenmarkt zu schwächen versuchte. Verschiedene Ökonomen - darunter auch Stucki von der SGKB - sind der Meinung, dass ein Kurs von unter 1,10 die SNB wieder zum Handeln zwingen würde. Sprich, dass mit weiteren Devisenkäufen der Franken "künstlich" abgeschwächt werden müsste. Andere Markteilnehmer sehen die SNB bereits bei unter 1.12 wieder in der Pflicht.
Sprissler von CS hingegen glaubt nicht an eine solche strikte Grenze: "Kurze Phasen weiterer Frankenstärke könnten vermutlich verkraftet werden, ohne dass die SNB eingreifen muss", so der Devisenexperte. Er findet, dass sich die Schweizer Firmen gut an die Währungsstärke angepasst haben und die Wirtschaft solide wächst. Aber nicht nur die Schweizer Wirtschaft wächst ordentlich, sondern auch die Eurozone. Trotz all der Probleme um Italien und der Angst einer Bankenkrise aufgrund der Türkei-Probleme. Das spricht in der Tendenz für einen stärkeren Euro.
Und ein weiter wichtiger Punkt ist mittelfristig eurostärkend: Die Normalisierung der EZB-Geldpolitik. "Der Euro dürfte spätestens im Herbst 2019 wieder stärker werden, wenn die EZB die Normalisierung der Geldpolitik vorantreibt", so die Prognose Sprisslers. Für dann wird der erste Zinsanstieg der EZB seit dem Jahr 2011 erwartet, die SNB dürfte dann erst mit etwas Abstand folgen. Sprisslers Credit Suisse sieht unter diesen Vorzeichen den Euro-Franken-Kurs in 12 Monaten bei 1.20, das gleiche Kursziel hat auch die UBS.
1.10 bis 1.20 - einmal mehr driften die Prognosen für die Frankenentwicklung weit auseinander.