Leerverkäufe der europäischen Gemeinschaftswährung haben sich zu einem der populärsten Trades entwickelt. Banken wie Nomura International Plc und HSBC Bank Plc haben ihren Kunden mitgeteilt, sich beim Euro auf weitere Verlusten einzustellen. Laut einem Optionspreis-Modell von Bloomberg liegt die implizierte Wahrscheinlichkeit, dass der Euro auf Monatssicht auf die Parität rutscht, bei rund 50 Prozent.
Kappt Russland die Gaslieferungen nach Europa ganz, droht der Region die Rezession. Der konjunkturelle Schock würde es der EZB ausserordentlich schwer machen, die Geldpolitik zu straffen. Die Zinsdifferenz zu den USA dürfte sich ausweiten. Am Mittwoch wurden für den Euro zeitweise nur noch 1,0162 Dollar gezahlt. So schwach war die Gemeinschaftswährung seit 20 Jahren nicht.
Die Sicht von Bankstrategen und anderen Finanzmarkt-Experten zur Lage:
Der EZB scheine ein klarer Plan zu fehlen, wie steigende Inflation und nachgebende Währung in den Griff zu bekommen seien, erklärte Vasileios Gkionakis, Chef der europäischen Devisenstrategie bei der Citigroup in London. Die Reden der letzten Tage zeigten, dass es innerhalb des EZB-Rates viele Bedenken und Unstimmigkeiten gibt. "Das macht mir wirklich Sorgen", sagte Gkionakis am Mittwoch in der Sendung Bloomberg Surveillance. "Wenn die EZB die Inflation eindämmen und die Wechselkurse stützen will, muss sie zwei Dinge tun: die Zinsen anheben und einen wirksamen Anti-Fragmentierungsmechanismus entwickeln."
Für Kit Juckes von der Societe Generale bleibt der Euro "diesen Sommer praktisch unkaufbar". Der Chef-Devisenstratege der Bank sagte: "Europas Energieabhängigkeit von Russland nimmt ab, aber nicht schnell genug, um eine Rezession zu vermeiden, wenn die Pipeline geschlossen wird. Wenn das passiert, dürfte EUR/USD weitere rund 10 Prozent verlieren."
Die EZB wird die Zinsen nicht erhöhen, nur um den Euro zu stärken, erwartet Juan Manuel Herrera Betancourt, Devisenstratege bei der Scotiabank. Der wirtschaftliche Schock eines Ölstopps würde eine Straffung der Geldpolitik erschweren und die Zinsdifferenz zu den USA wahrscheinlich vergrössern, sagte er Bloomberg am Mittwoch am Telefon. "Wo der Boden ist? Schwer zu sagen."
Kaspar Hense von BlueBay Asset Management in London verweist darauf, dass die Unterbrechung der russischen Lieferungen zu Rationierungen führen könnte. Wenn das passiert, "werden wir eine erhebliche Rezession in Europa erleben", so der Portfoliomanager. "Es könnte ein sehr langer Winter werden." BlueBay habe den Euro seit letztem Monat leerverkauft. Hense geht davon aus, dass die Gemeinschaftswährung auf 90 US-Cents fallen wird, wenn Russland seine Lieferungen stoppt. Sein Basisszenario sei dies jedoch nicht.
(Bloomberg)