Marktbeobachter haben festgestellt, dass es während der Medienkonferenz von Fed-Chairman Powell 15 Minuten dauerte, bis der Aktienmarkt euphorisch wurde. Grund war ein Redebestandteil des Fed-Vorsitzenden. Das "Frontloading" sei vorbei, nun werden man "datenabhängiger" entscheiden, sagte der Chef der wichtigsten Notenbank der Welt. Unter anderem deswegen, weil der US-Arbeitsmarkt immer noch robust ist, werteten dies einige als Hinweis auf eine Verlangsamung der restriktiven Zinspolitik.
Auf die US-Rezessions-Meldung vom Donnerstag reagierten die Märkte ebenfalls gelassen. Zwei Mal Schrumpfung im Quartal zu messen heisst technische Rezession. Die US-Regierung wiegelt ab. Die Märkte auch. Dow Jones, S&P 500 und vor allem der Tech-Index Nasdaq mit seinen zins-sensitiven Wachstumstiteln schossen am Mittwoch und am Donnerstag nach oben.
Doch für Mike Wilson, den Anlagechef von Morgan Stanley, ist dies eine "Falle": "Der Markt steigt immer, wenn die Fed ihre Zinsschritte beendet und bevor die Rezession anfängt", sagte Wilson zum Sender CNBC.
Die Hoffnungen bestehen, dass die Fed so in den Bereich des "neutralen" Zinssatzes vordringt, und dass sie später gar wieder Zinsen senken könnte. Der grösste Teil der Analysten erwartet gemäss Erhebungen der Chicago Mercantile Exchange, dass die Zinsen bis zum Dezember auf ein Band von 3,25 bis 3,5 Prozent steigen und ab März 2023 wieder zurückgehen werden.
Doch skeptische Stimmen glauben, dass die Inflations- und übrige Konjunkturdaten den Zinserhöhungszug weiterrollen lassen werden. Ein marktverstörender 100-Prozent-Punkte-Schritt bei der nächsten Fed-Sitzung 21. September halten einige immer noch für möglich.
«Bärenmarktrally kommt zum Halt»
Gleichzeitig dürfte sich der Wirtschaftsabschwung fortsetzen. Ob die Fed-Politik eine "weiche Landung" erlaubt, ist fraglich. Morgan-Stanley-Chefanleger Wilson stellt in Aussicht, dass zwischen dem Ende der Fed-Straffung und der veritablen Rezession in den USA eine grosse zeitliche Lücke bestehen werde. "Da ist kein Fenster, wo normalerweise eines ist."
Anlagechef Matthias Geissbühler von den Raiffeisen-Banken ist ebenfalls skeptisch: "Diese klassische Bärenmarktrally, die wir jetzt sehen, wird wieder zu einem Halt kommen. Die Langfrist-Trends sind immer noch nach unten gerichtet", sagt er im Gespräch mit cash.ch. Ob die Inflation am Höhepunkt angekommen sei, sei fraglich. "Die USA sind nun technisch in der Rezession. Die Abwärtstrends sehen wir auch technisch, beispielsweise bei der 100-Tage-Durchschschnittlinie des S&P 500."
Was wir bisher am Aktienmarkt zu beobachten gewesen sei, sei eine "geordnete" Korrektur. "Einen richtigen Ausverkauf haben wir noch nicht gesehen", so Geissbühler. "Der Volatilitätsindex VIX notiert seit Anfang Jahr unter 40 Punkten. Dies sind Hinweise darauf, dass der Markt noch nicht alles Negative eingepreist hat."
Der Volatilitätsindex VIX in den vergangenen 12 Monaten (Grafik: CBOE).
Im Schweizer Aktienmarkt haben zuletzt auch unerwartet gute Unternehmenszahlen die Stimmung anhoben. So berichtete Holcim von einem sehr guten Quartal. Nestlé wuchs stärker als angenommen. Und bei der Credit Suisse griffen die Anleger zu, obwohl die Bank 1,6 Milliarden Franken Quartalsverlust anmeldete. Der ab August neue CEO Ulrich Körner und ein Konzernumbau à la UBS stärken derzeit das Anlegervertrauen in die Bank.
Raiffeisen-Anlagechef Geissbühler rät aber dazu, bei Aktien weiterhin vorsichtig zu sein. Auch im Schweizer Markt, der dank seiner defensiven Ausrichtung etwas robuster sein dürfte als der US-Markt, bestünden noch Risiken. "Trotz teilweise besser als befürchtet ausgefallenen Unternehmenszahlen sind die Margen unter Druck. Die Einschätzungen zum zweiten Halbjahr sind noch zu optimistisch. Die Basis der Einschätzungen ist immer noch ein 'Soft Landing'". Im Falle einer Rezession müssten die Gewinnschätzungen deutlich nach unten revidiert werden.
Das Soft Landing ziehen US-Experten mehr und mehr in Zweifel. Und selbst wenn der US-Geldpolitik die weiche Landung gelingen würde, gebe es noch Abwärtsrisiken für die Gewinne der Unternehmen: Morgan-Stanley-Experte Wilson, einer der grössten "Bären" der Wall Street, hält einen Fall des S&P 500 in Richtung 3500 Punkte für möglich. Derzeit notiert der US-Benchmarktindex bei 4072 Punkten.