cash.ch: Corona, Ukraine-Krieg, Inflation: Seit Anfang 2020 haben sich die Ereignisse in der Welt überstürzt. Sind wir mit der Einordnung damit überfordert?

Adam Tooze: Ich weiss nicht, ob wir überfordert sind. Wir sind bestimmt herausgefordert. Wir sehen aber einen relativ schnellen Anpassungsprozess seitens der verschiedenen Akteure im globalen System. Zum Teil fällt man auch auf alte Muster zurück, um die Situationen zu meistern. 

Was meinen Sie damit?

Besonders frappierend für mich als Historiker war die Unterschrift von US-Präsident Joe Biden für den 'Land-Lease-Act' für die Ukraine am 9. Mai, also am Tag, an dem Russland den Sieg über Nazi-Deutschland feiert. Das ist natürlich ein direkter Rückbezug auf den Zweiten Weltkrieg (das Leih- und Pachtgesetz datiert von 1941 und ermöglichte den USA damals die Lieferung von Kriegsmaterial an Länder, die gegen die Achsenmächte kämpften, Anm. der Red.). Man verfällt also sehr schnell in alte Strukturen. Ich verstehe dies nicht als Kritik. Aber wenn Sie fragen, ob wir überfordert sind, dann sage ich: Wir haben alte Schemata, um die gegenwärtige Situation einzuordnen. Daher denke ich, dass Russland uns das Leben in gewisser Weise etwas einfach macht. Es ist tragisch und kriminell, was in der Ukraine passiert. Aber wir erkennen alte Muster. 

China mag sich nicht von Russland distanzieren. Schon vor dem Ukraine-Krieg liessen die wirtschaftlichen Abkoppelungstendenzen Chinas Szenarien aufleben, dass sich die Welt in eine West- und Ostwirtschaft aufteilen könnte. Wie sehen Sie das?

Das scheint mir nicht richtig plausibel. Dass sich die Welt in Blöcke zerlegt, ist schon wieder ein Gedankenbild des Kalten Krieges. Schauen Sie: Seit fünf Jahren ist bei Apple die Rede von einer China-Entkoppelung. Aber das Lieferantennetz von Apple ist seit fünf Jahren genau das gleiche geblieben. Apple ist heute mit China gar noch etwas intensiver verkoppelt. China ist nicht die Sowjetunion oder Russland. Die europäische Wirtschaft ist in viel wichtigerer Weise mit China verbunden als mit Russland. Ohne China gibt es zum Beispiel für Volkswagen kaum eine Zukunft. Die Amerikaner verfügen aufgrund innenpolitischer Zwänge auch nicht mehr das breitbandige Angebot, das zu einer solchen Blockbildung nötig wäre. Das hindert die USA an einer Hegemonialpolitik im klassischen Sinn. Die USA können heute nicht mehr in der geschlossenen Form auftreten, wie das noch in den 1950er Jahren der Fall war. 

Wollen Sie damit auch sagen, dass die liberalen Demokratien punkto Handlungsfähigkeit und Stärke gegenüber den autoritären Regimes ins Hintertreffen geraten?

Das wäre die Story von 2019 oder 2020 gewesen. Nein, wir reden über eine allgemeine Krise der politischen Autorität. In den USA beobachten wir diesbezüglich zwar eine gewisse Stabilisierung. Ob diese anhält, bleibt offen. Im Falle Russlands muss man von einer handfesten Staatskrise reden. Es ist eine Katastrophe, was sich da abspielt. Auch China befindet sich in einer wirklich schwierigen Position aufgrund des gesundheitspolitischen Desasters. China verliert quasi in der letzten Sekunde der Verlängerung noch das Spiel. 

Mit der strengen Anti-Corona-Politik zerstört China die eigene Wirtschaft zugunsten ideologischer Vorgaben.

Ich glaube nicht, ob man das eine ideologische Vorgabe nennen kann. China hat den Anspruch gehabt, gut zu regieren. Das haben wir im Westen aufgegeben in der Corona-Krise. Im Grunde haben wir uns alle darauf geeinigt, dass wir flächendeckend die Herdenimmunität einführen. China hat dagegen hat seine Menschen geschützt, es sind ja kaum Leute an Corona gestorben. In den USA gab es eine Million Corona-Tote. 

Aber all dies ging in China zulasten der Wirtschaft.

Nein, ursprünglich nicht. 2020 hatte China in der Pandemie gewonnen, im Gesundheitswesen wie auch wirtschaftspolitisch. Das Versagen Chinas wird nun aber manifest: Die eigene Impfstoffentwicklung war nicht so effektiv wie unsere. China kann dieses Manko nun nicht akzeptieren. Was China in den letzten Wochen erlebt hat, war ein Riesen-Schock. Es geht also nicht um langwierige, sich streitende Demokratien einerseits und effiziente, autoritäre Regime andererseits. Es ist vielmehr ein allgemeines Versagen von Regierungsmodellen, im Westen wie im Osten. 

Wie steht Europa da zwischen den USA und China?

Europa steht besser da als die beiden grossen Konkurrenten USA und China.

Aufgrund welcher Erkenntnisse?

Aufgrund der Komplexität der europäischen Demokratie, wegen der relativ sicheren Institutionen in Europa  im Vergleich zu den USA - und wegen der Tatsache, dass es den Europäern dieses Mal gelungen ist, nicht zu scheitern. Spräche man von einer  allgemeinen Fragilität der Demokratie, dann träfe dies etwa auf Deutschland gar nicht zu. Auch fragilere Demokratien wie Italien oder Spanien kommen gut durch. Dort werden Mehrheiten für Regierungen gefunden. 

War die überwiegend geschlossene Reaktion der EU gegenüber Russland demnach ein Zeichen der Stärke? 

Auf der einen Seite ja. Auf der anderen Seite ist man auch etwas verhalten bezüglich Energiepolitik. Das kann man zweifach lesen: Als Zeichen der Schwäche oder als Realpolitik. Als Fähigkeit, die eigenen Interessen gezielt zu verfolgen und sich nicht vereinnahmen zu lassen von der Politik der Ukrainer und der US-Amerikaner. Paris und Berlin betreiben ja nach wie vor eine Diplomatie mit Russland, was sehr zu begrüssen ist. In dem Sinn, dass wir eine Ende brauchen. Und dieses Ende muss verhandelt werden. 

In der Ukraine läuft ja quasi ein Stellvertreterkrieg angesichts der Waffenlieferungen des Westens…

Ja. Die Waffen kommen hauptsächlich aus den USA.

Ist dies nicht die ganz grosse Gefahr des Krieges? Dass Russland dies explizit zum Thema macht?

Absolut. Es gibt, wenn man die Entwicklung des Zweiten Weltkrieges betrachtet, tatsächlich beunruhigende Analogien. Auch damals wollten die USA zunächst mit einem Stellvertreterkrieg über Grossbritannien und die Sowjetunion einen Sieg über Hitler-Deutschland erreichen. Der Westen macht es heute Putin ganz klar, dass er bereit ist, bis zum Ende einen Stellvertreterkrieg auszufechten. Es ist das Ziel der USA, die Souveränität Russlands zu brechen. Das ist die allergrösste Herausforderung für Putin. 

Wie wird dieser Krieg enden?

Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Erstens: Die Ukraine siegt. Sie stoppt die russische Offensive und kann auch die russischen Einnahmen von 2014 und 2015 rückgängig machen. Dann muss man sich fragen, ob sich Russland damit abfinden kann, ob Putin derart hohe Kosten aufwenden will, den Krieg fortzusetzen und den höchsten Preis dafür zu zahlen. Es wäre das Szenario der Eskalation, und es wäre auch der beste Ausgang. Als Europäer kann man sich ja nichts anders wünschen, als dass die Ukraine siegt. 

Die andere Möglichkeit des Kriegsausgangs?

Es wäre das Afghanistan-Szenario. Ein anhaltender Krieg mit einer Patt-Situation. Dann hat es Europa längerfristig mit einer massiven Destabilisierung an seiner östlichen Grenze zu tun inklusive einer anhaltenden Flüchtlingskrise. Tendenziell ist das aber das unwahrscheinlichere Szenario. 

Das Interview mit Adam Tooze fand während des World Economic Forum in Davos Anfang letzter Woche statt.

Der Brite Adam Tooze, geboren 1967 in London und aufgewachsen in Deutschland, ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Columbia University in New York. Zuvor war er Professor für moderne deutsche Geschichte an der Yale University. Sein Buch "Crashed" zur europäischen Schuldenkrise ist ein Standardwerk geworden. Zuletzt erschienen von ihm ist das Buch "Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen".