Den weiteren geldpolitischen Kurs hat die Notenbank offen gelassen. Er wird von den Konjunkturdaten abhängen. Einschätzungen von Ökonomen und anderen Wirtschaftsexperten zu den EZB-Beschlüssen im Überblick:
Thomas Gitzel, Chefökonom VP Bank:
«Die EZB dürfte aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ihrer nächsten Sitzung im Dezember nochmals mit einer Zinssenkung im Umfang von 0,25 Prozentpunkten aufwarten. Alles andere wäre in Anbetracht der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung eine Überraschung. Und auch im kommenden Jahr dürften noch weitere Zinssenkungen folgen. Wie stark der Leitzins zurückgeht, wird von der Lohnentwicklung abhängen. Die Arbeitnehmerforderungen lassen darauf schliessen, dass die Leitzinsen im Vergleich zur Vor-Corona-Ära auf erhöhtem Niveau zum Liegen kommen werden.»
Ulrich Kater, Chefökonom Dekabank:
«Die EZB drückt leicht aufs Tempo bei den Zinssenkungen. Sie zollt damit der enttäuschenden Konjunkturentwicklung im Euroraum und in Deutschland Tribut. Es handelt sich aber eher um einen vorsorglichen Schritt als um eine dringende Notwendigkeit. Das Gesamtbild zu Inflation und Konjunktur bleibt bestehen und damit auch der weitere Zinspfad, der ab Dezember eher quartalsweise Lockerungen vorsieht. Kreditkonditionen, etwa bei Hypothekenkrediten werden kaum noch sinken, da sie die Entwicklung bei den Leitzinsen bereits Monate im Voraus vorweggenommen haben.»
Clemens Fuest, Präsident Ifo-Institut:
«Angesichts sinkender Inflation und schwacher Konjunktur, insbesondere in Deutschland, aber auch im Euroraum insgesamt, ist die Senkung des Leitzinses der EZB gut begründet. Dennoch gibt es bei der Inflation auch Aufwärtsrisiken, vor allem bei den Dienstleistern. Deshalb ist es richtig, sich nicht auf weitere Zinssenkungen festzulegen.»
Ulrich Wortberg, Analyst Landesbank Helaba:
«Die künftigen Entscheidungen der EZB sind datenabhängig und da bei der Inflation in den kommenden Monaten mit einer gewissen Gegenbewegung zu rechnen ist, dürfte eine erneute Leitzinssenkung im Dezember noch keine ausgemachte Sache sein. Die Tür für weitere Massnahmen ist aber geöffnet.»
Jan Viebig, Chef-Anlagestratege Oddo BHF:
«Die Inflationsrisiken, die weiterhin auf der Wirtschaft lasten, sollten nicht unterschätzt werden. Besonders die Energiepreise sind schwer zu prognostizieren und bergen angesichts der zahlreichen geopolitischen Risiken Unwägbarkeiten für die Geldpolitik. Aus diesen Gründen halte ich den datengetriebenen Kurs der EZB für richtig.»
Florian Heider, Wissenschaftlicher Direktor Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung SAFE:
«Diese weitere Zinssenkung der EZB ist folgerichtig angesichts der sinkenden Inflation und des schwachen Wirtschaftswachstums. Mit diesem vorsichtigen Schritt behält die EZB die Möglichkeit wieder steigender Inflation durch hohe Lohnabschlüsse und Preisanstiege im Dienstleistungssektor im Blick. Angesichts der kürzlichen Zinssenkung um 0,50 Prozentpunkte der US-Notenbank Fed halte ich es für wahrscheinlich, dass in diesem Jahr noch ein weiterer Schritt folgt. In einer Phase anhaltender politischer Unsicherheiten ist es angemessen, vorsichtig und datenabhängig von Sitzung zu Sitzung zu entscheiden.»
Irina Kurochkina, Portfolio-Managerin Vermögensverwalter Aegon AM:
«Der neue Zinssenkungszyklus ist bemerkenswert, da die Zentralbanken von einem sehr hohen Niveau ausgehen, das mit dem Niveau vor der Finanzkrise von 2007 vergleichbar ist. Dies könnte den Entscheidungsträgern bei Bedarf mehr Spielraum für tiefere Zinssenkungen geben, aber auch zu mehr Unsicherheit auf dem Zinsmarkt führen, da die Preisgestaltung für den Endzinssatz volatiler wird.»
«Die Zeit wird zeigen, ob es sich bei diesem Zyklus nur um eine 'Normalisierung' handelt und es den Zentralbanken gelingen wird, zu neutralen Zinssätzen zurückzukehren, ohne dass es zu einer grösseren Konjunkturabschwächung kommt.»
Claus Vistesen, Chefökonom Eurozone Analysehaus Pantheon Macroeconomics:
«In der Erklärung, die dem Zinssenkungsbeschluss zugrunde liegt, wird auf eine aktualisierte Bewertung der Inflationsaussichten verwiesen (...) und hinzugefügt, dass die Inflationsaussichten nun auch durch die 'jüngsten negativen Überraschungen bei den Indikatoren für die Wirtschaftstätigkeit' beeinflusst werden, wobei auch auf die immer noch restriktiven Finanzierungsbedingungen verwiesen wird. Diese Änderung der Sprache und der Perspektive ist ein grosser Gewinn für die Tauben, auch wenn ihnen ein schwacher Inflationsbericht für September geholfen hat, der nicht unbedingt repräsentativ für das ist, was im vierten Quartal kommt. Die Falken ihrerseits werden sich mit dem Hinweis auf die hohe Binneninflation und die 'mit erhöhtem Tempo' steigenden Löhne ebenso zufriedengeben, wie mit der Wiederholung der Aussage, dass die EZB die Leitzinsen so lange wie nötig ausreichend restriktiv halten werde.»
Birgit Henseler, Analystin DZ Bank:
«Einen Ausblick auf den künftigen geldpolitischen Kurs bleibt die Notenbank jedoch schuldig - die Märkte warten also weiter vergeblich auf Hinweise zum weiteren Tempo und zum Ende des Zinssenkungszyklus. Die Sorgen um einen zu hohen Lohndruck und damit eine nur langsam sinkende Kerninflationsrate scheinen im EZB-Rat noch nicht ganz überwunden. Das dürfte die Notenbank zwar nicht davon abhalten, die Leitzinsen im Dezember erneut zu senken. Es spricht aber dafür, dass die Notenbank im kommenden Jahr nur noch vierteljährliche Zinssenkungen anstrebt.»
Robert Greil, Chefstratege Privatbank Merck Finck:
«Während der EZB-Rat noch im September recht zurückhaltend argumentiert hat, drücke er mit der erneuten, mittlerweile dritten Leitzinssenkung um 0,25 Prozentpunkte aufs Gaspedal. Die Zinsen dürften auch weiter sinken. Für eine echte Wachstumswende 2025 in Deutschland kommen die - jetzt auch entschlosseneren EZB-Zinssenkungen - wohl zu spät.»
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(AWP)