Wegen der eingetrübten wirtschaftlichen Aussichten im Euroraum kommt in der EZB eine Diskussion über die Ausrichtung der Geldpolitik auf. Laut Insidern dreht sich die Debatte darum, ob die Leitzinsen so weit gesenkt werden müssen, dass die Konjunktur angekurbelt wird - oder aber nur auf ein neutrales Niveau, das keine Impulse liefert. «Ich denke, neutral ist nicht genug», sagte ein Insider, der mit der Diskussion vertraut ist. Er verwies zugleich darauf, dass die Wirtschaft seit zwei Jahren praktisch nicht vom Fleck komme und eine Erholung nicht in Sicht sei.
EZB-Chefin Christine Lagarde wähnt die Notenbank unterdessen auf gutem Weg, ihr Inflationsziel von zwei Prozent nächstes Jahr zu erreichen. Das Tempo weiterer Senkungen des Einlagensatzes von derzeit 3,25 Prozent hänge dabei von den hereinkommenden Daten ab.
Im September lag die Teuerung in der Euro-Zone bei nur 1,7 Prozent. Frankreichs Notenbankchef Francois Villeroy de Galhau warnte jüngst vor der Gefahr, dass die Inflation zu niedrig ausfalle, «insbesondere wenn das Wachstum unterdurchschnittlich bleibt». Portugals Zentralbankchef Mario Centeno äusserte sich ähnlich: «Ich sehe mehr Risiken in einem Unterschreiten der Zielinflation als umgekehrt».
Das Szenario einer zu niedrigen Inflation weckt bei den Währungshütern schlechte Erinnerungen: Denn im vorigen Jahrzehnt, also bevor die Corona-Pandemie und ihre Folgewirkungen die Inflationswelle mit ins Rollen brachten, kämpften sie lange mit einem zu niedrigen Preisauftrieb. Dabei galt es, das Risiko einer Deflation abzuwehren - also einer Abwärtsspirale aus fallenden Preisen, sinkenden Löhnen und Investitionszurückhaltung, die eine Wirtschaft am Boden hält.
Zuletzt hatte mit dem Einkaufsmanagerindex (PMI) von S&P Global ein Frühindikator eine einsetzende Talfahrt im Euroraum signalisiert. Für die am Donnerstag anstehenden PMI-Daten für den Oktober erwarten Experten, dass die Wirtschaft im rezessiven Bereich bleibt. Aus den Septemberzahlen des PMI war herauszulesen, dass sich der Kostendruck abschwächt: So stiegen die Einkaufspreise mit der niedrigsten Rate seit 42 Monaten, während die Angebotspreise mit der geringsten Rate seit 41 Monaten angehoben wurden.
EZB fährt straffen Kurs
Mit dem jüngsten Zinsentscheid hatte die EZB ihre Entschlossenheit bekräftigt, für eine zeitnahe Rückkehr der Inflation zum mittelfristigen Ziel von zwei Prozent zu sorgen. Der EZB-Rat wolle die Leitzinsen so lange wie erforderlich ausreichend restriktiv halten, um dieses Ziel zu erreichen: «Die Festlegung der angemessenen Höhe und Dauer des restriktiven Niveaus durch den EZB-Rat wird auch in Zukunft von der Datenlage abhängen und von Sitzung zu Sitzung erfolgen», heisst es in dem Begleittext zum Zinsentscheid weiter.
Angesichts der Konjunkturabkühlung und der zugleich gedämpften Inflation treibt eine noch kleine, aber wachsende Gruppe von Währungshütern die Sorge um, dass die EZB mit einem zu lange betriebenen straffen Kurs ins Hintertreffen geraten könnte. Sie plädieren dafür, dass die EZB die Passage zum Beibehalten des restriktiven Zinsniveaus streichen sollte. Ein Sprecher der EZB lehnte einen Kommentar ab.
Grosser Zinsschritt nicht ausgeschlossen
Ein heikler Punkt in der Debatte um das neutrale Zinsniveau ist, dass kein Konsens darüber besteht, wo es genau zu verorten ist. «Wenn Sie mich heute fragen würden: ‚Wo ist es?, wäre die ehrliche Antwort: Ich weiss es nicht», räumte EZB-Chefin Lagarde diese Woche ein. Der portugiesische Notenbankchef Centeno sieht das neutrale Niveau bei «vielleicht zwei Prozent oder etwas weniger». Er schliesst auch grössere Zinssenkungen nicht aus. Dies sei abhängig von den Konjunkturdaten. Dabei sprach er sich für eine «allmähliche, stetige und vorhersehbare Senkung der Zinssätze» auf ihr neutrales Niveau aus.
Ann-Katrin Petersen vom BlackRock Investment Institute verweist darauf, dass die Dienstleistungsinflation mit knapp vier Prozent im September «immer noch zu hoch» sei: «Wir glauben nicht, dass die EZB zum alten Regime einer sehr lockeren Geldpolitik zurückkehrt. Selbst aufeinanderfolgende Zinssenkungen würden die Konjunktur noch bis weit ins Jahr 2025 hinein dämpfen.»
(Reuters)