«Das EZB-Direktorium hat die Kapitalmärkte seit Monaten in zahlreichen Reden und Interviews sorgfältig auf die bevorstehende Leitzinssenkung vorbereitet», heisst es in einem Ausblick von Union Investment. Spielraum für eine etwas lockere Ausrichtung bietet die Inflationsentwicklung. Nachdem die Teuerung infolge von Corona-Schock und Ukraine-Krieg massiv gestiegen war, stemmten sich die EZB-Währungshüter ab Sommer 2022 mit kräftigen Zinsanhebungen gegen den Inflationsdruck.

Seit dem Hoch von mehr als zehn Prozent ist die Inflation in der Eurozone mittlerweile wieder deutlich gefallen. Allerdings erweist sie sich als hartnäckig. Zuletzt ist sie sogar wieder etwas gestiegen und liegt mit 2,6 Prozent über dem mittelfristigen Zielwert der EZB von zwei Prozent. Der Zeitpunkt einer ersten geldpolitischen Lockerung sei deshalb nicht unumstritten, meint Experte Christian Kopf von Union Investment. Zumal es im Währungsraum und auch in Deutschland zuletzt Zeichen einer konjunkturellen Erholung gab.

Deshalb sehen die meisten Fachleute die EZB nicht auf einen festgelegten Zinssenkungskurs einschwenken. «Eine zu schnelle und zu starke Senkung der Kreditkosten in den nächsten Monaten könnte die Konjunktur möglicherweise übermässig stimulieren und eine zweite Inflationswelle auslösen», sagt Fachmann Ben Laidler von der Handelsplattform eToro. Vielmehr sei zu erwarten, dass die Notenbank von Sitzung zu Sitzung und auf Grundlage der Daten über ihre Ausrichtung entscheiden werden, sagt Konstantin Veit vom grossen Vermögensverwalter Pimco.

An den Finanzmärkten wird ebenfalls keine Reihe von Zinssenkungen erwartet. Aktuell weisen Terminkontrakte am Anleihemarkt auf insgesamt zwei bis drei Lockerungen um je 0,25 Prozentpunkte bis zum Jahresende hin. Eine zweite Zinssenkung nach Juni sehen die meisten Experten nicht gleich auf der Folgesitzung im Juli, sondern eher auf der daran anschliessenden Sitzung im September. Berenberg-Chefökonom Holger Schmieding sieht es ähnlich und begründet seine Erwartung unter anderem mit dem zuletzt wieder gestiegenen Lohnwachstum. Viele Experten verweisen auf die immer noch hohe Inflation im Dienstleistungsgewerbe, die vor allem auf die deutlichen Gehaltszuwächse zurückgeht.

Eine historische Besonderheit könnte ebenfalls gegen ein zu starkes Vorpreschen der EZB sprechen: Im Gegensatz zu früheren Lockerungsrunden geht die US-Notenbank dieses Mal nicht den ersten Schritt. Denn in den USA geht die Teuerung mit Inflationsraten von mehr als drei Prozent deutlich langsamer zurück als im Euroraum. Hinzu kommt eine wesentlich stabilere Konjunkturentwicklung und ein ausserordentlich solider Arbeitsmarkt. Einen entscheidenden Grund, warum die EZB auf die Fed warten solle, sieht Berenberg-Ökonom Schmieding aber nicht. Vielmehr rechtfertige der transatlantische Inflations- und Wachstumsunterschied ein Vorpreschen der EZB./bgf/jsl/jha/

(AWP)