«Nach der Stagnation, die wir im Jahr 2023 hatten, wächst die europäische Wirtschaft wieder», sagte EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni bei der Vorstellung der Herbst-Prognose. Allerdings bleibe das Wachstum bescheiden und sei erheblichen Abwärtsrisiken ausgesetzt. «Die Aussichten sind nach wie vor höchst unsicher», so Gentiloni weiter. Er verwies etwa auf den anhaltenden Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, den Konflikt im Nahen Osten als auch auf zunehmende Umweltrisiken, wie die jüngsten Überflutungen in Spanien zeigten.

Schwächelnder Wachstumsmotor

Lange war Deutschland in Europa der Wachstumsmotor - das gilt aber nicht mehr. Es wäre nun das zweite Jahr infolge, in dem die deutsche Wirtschaft schrumpft, nach einem Minus von 0,3 Prozent im vergangenen Jahr. Als Gründe für den Rückgang werden etwa eine schwache Nachfrage nach Industrieerzeugnissen, hohe Unsicherheit, Arbeitskräftemangel sowie wegen schlechter Konsumlaune eine hohe Sparquote der Verbraucher genannt. Bei ihrer vorherigen Prognose im Mai war die EU-Kommission für 2024 noch von einem minimalen Wachstum von 0,1 Prozent in Deutschland ausgegangen.

Im europäischen Vergleich wird sonst nur Estland (-1 Prozent), Irland (-0,5 Prozent), Österreich (-0,6 Prozent) und Finnland (-0,3 Prozent) ein Schrumpfen des BIP in diesem Jahr prognostiziert. Bei anderen grossen Volkswirtschaften wie Frankreich (1,1 Prozent) oder Spanien (3 Prozent) rechnet Brüssel mit einem Plus.

Auch der deutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung senkte jüngst seine Schätzung und prognostiziert für dieses Jahr ein Schrumpfen der deutschen Wirtschaft um 0,1 Prozent. Für das kommende Jahr erwartet er nur ein Mini-Plus des Bruttoinlandsprodukts von 0,4 Prozent, die EU-Kommission geht von einem Plus von 0,7 Prozent aus.

Wachsende Unsicherheit nach Ampel-Aus?

Die Bundesregierung hatte im Oktober ihre Konjunkturprognose gesenkt und rechnet für 2024 mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,2 Prozent. Ein Grund ist Unsicherheit bei Unternehmen und Bürgern, die sich mit Investitionen zurückhalten. Diese könnte nun nach dem Scheitern der Ampel weiter steigen. Für das kommende Jahr erwartet Berlin ein Wachstum von 1,1 Prozent. Dabei setzt die Bundesregierung aber auch auf eine geplante Wachstumsinitiative mit unter anderem Steuererleichterungen. Ob dies zumindest in Teilen noch bis Jahresende umgesetzt wird, ist nach dem Regierungsbruch völlig offen.

Weiterhin kommt die schwache Konjunktur in Deutschland zunehmend auf dem Arbeitsmarkt an. Die Zahl der Unternehmen geht zurück und der Pessimismus bei den Firmen nimmt zu, wie aus Daten des Statistischen Bundesamts hervorgeht.

Kommission rechnet im nächsten Jahr mit Plus

Für das kommende Jahr wird in Brüssel trotzdem mit einem Plus der Wirtschaft der Staatengemeinschaft von 1,5 Prozent gerechnet, sowie mit plus 1,3 Prozent in der Eurozone. Für 2026 schraubt die Kommission die Prognose noch etwas weiter hoch und erwartet ein Plus von 1,8 Prozent in der EU und 1,6 Prozent in der Eurozone. Für Deutschland rechnet die EU-Kommission derzeit für 2026 mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in Höhe von 1,3 Prozent.

Die jährliche Inflation in der Eurozone wird sich der Kommissionsschätzung zufolge von 5,4 Prozent 2023 in diesem Jahr auf 2,4 Prozent mehr als halbieren. In den Jahren 2025 (2,1 Prozent) und 2026 (1,9 Prozent) soll sie sich nach Erwartung der Experten weiter abschwächen.

Geopolitische Herausforderungen für Europa wachsen

Die Beziehungen zum wichtigen Handelspartner USA unter dem künftigen Präsidenten Donald Trump stellen eine weitere Herausforderung für die EU dar. Noch vergangene Woche hatten die EU-Staats- und Regierungschefs es als oberste Priorität bezeichnet, einen Wirtschaftskrieg mit den Vereinigten Staaten zu vermeiden. Trump hatte im Wahlkampf angekündigt, auf Importe neue Zölle in Höhe von 10 bis 20 Prozent einführen zu wollen, um den Produktionsstandort USA zu stärken. «Die Kommission wird mit der neuen US-Regierung zusammenarbeiten, um eine starke transatlantische Agenda voranzutreiben und sicherzustellen, dass die internationalen Handelskanäle offen bleiben und gleichzeitig sicherer werden», sagte Gentiloni nun.

Auch mit China befindet sich die EU in einem belastenden Handelsstreit. Seit Ende Oktober etwa gelten Zusatzzölle für aus China importierte Elektroautos. Sie sind aus Sicht der Kommission notwendig, um langfristig die Zukunft der Autoindustrie in der EU zu sichern. Die Regierung in Peking wirft der EU Protektionismus vor und drohte in der Vergangenheit unter anderem mit höheren Zöllen bei der Einfuhr von Verbrennern mit grossem Hubraum aus der EU in die Volksrepublik. Davon wären besonders deutsche Autobauer betroffen./rdz/DP/ngu

(AWP)