In der Geschichte der Schweiz ist es noch nie zu einer Wiederholung einer Volksabstimmung gekommen. Und dabei bleibt es vorerst auch: Das aus drei Männern und zwei Frauen bestehende Richtergremium war sich einig, dass die Folgen einer Aufhebung der Abstimmung kaum überschaubar wären, da sowohl der Teil zur Erhöhung der Mehrwertsteuer, als auch jener zum Rentenalter aufgehoben werden müssten.
Die Erhöhung der Mehrwertsteuer sei seit Anfang dieses Jahres in Kraft. Eine Rückabwicklung sei nicht möglich. Zudem würde es ansonsten an einer Rechtsgrundlage für den um 0,4 Prozent höheren Mehrwertsteuersatz fehlen, hiess es.
Darüber hinaus seien in Bezug auf das AHV-Gesetz bereits zahlreiche Dispositionen getroffen worden, auch wenn das geänderte Gesetz erst nächstes Jahr in Kraft trete. Die Revision betreffe Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Auch sei vor dem Hintergrund der vorliegenden umstrittenen Abstimmung die 13. AHV-Rente angenommen worden.
Beschwerden nach Prognosefehler
Offen gelassen hat das Bundesgericht die Frage, ob es sich bei den vom Bundesrat im Abstimmungsbüchlein veröffentlichten Zahlen zu den Finanzprognosen um einen krassen Fehler handelte. Die Meinungen dazu waren im Richtergremium unterschiedlich.
Die Grünen und die SP Frauen sowie ein Waadtländer Anwalt legten diesen Sommer nach Bekanntwerden des Fehlers im Abstimmungsbüchlein zu den Finanzprognosen Beschwerde ein. Der Bundesrat hatte geschrieben, dass sich der Finanzierungsbedarf der AHV von 2022 bis 2032 auf rund 18,5 Milliarden Franken belaufen würde.
Diese Zahl wurde anschliessend nach unten korrigiert. Eine Administrativuntersuchung habe zudem gezeigt, dass dem Bundesamt für Sozialversicherungen kein Vorwurf gemacht werden könne, hiess es.
«Frauen um ein Jahr Rente betrogen»
Die Behauptung, dass die AHV kurz vor dem finanziellen Ruin stehe und es keine Alternative zur Erhöhung des Frauenrentenalters gebe, sei während des Abstimmungskampfes falsch gewesen und sei es auch heute noch, sagte SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer nach dem Entscheid in Lausanne.
Auch Grünen-Präsidentin Lisa Mazzone zeigte sich «wütend und verbittert» über die Ablehnung der Beschwerden. Es sei ein Fehler festgestellt worden, doch sei dieser einfach banalisiert worden.
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) zeigte sich ebenfalls enttäuscht. «Frauen bleiben um ein Jahr Rente betrogen», teilte der SGB mit. Dies, obwohl die Mehrheit der Frauen klar gegen die Reform gewesen sei. Die Gewerkschaft Unia sprach von einem «mutlosen» Entscheid des Bundesgerichts. Er sei ein schwerer Schlag für die Frauen in der Schweiz.
Auch der Gewerkschafts-Dachverband Travailsuisse und die Gewerkschaft Syna kritisierten den Entscheid. Es sei fraglich, ob die Bevölkerung der Erhöhung zugestimmt hätte, wenn die Finanzlage der AHV korrekt dargestellt worden wäre.
Bürgerliches Lager sieht «vernünftigen» Entscheid
Ganz anders tönte es aus den Reihen von Mitte, Mitte-Rechts und Rechts: SVP-Nationalrätin Barbara Steinemann bezeichnete den Bundesgerichtsentscheid als «sehr vernünftig». Es wäre rechtsstaatlich bedenklich, wenn die Abstimmung aufgrund von Prognosen wiederholt worden wäre, sagte die Zürcherin auf Anfrage. So hätte auch die Abstimmung zur 13. AHV wiederholt werden müssen.
Die Mitte respektiere den unabhängigen Entscheid des Bundesgerichts. Er stärke das Vertrauen in Demokratie und Institutionen, teilte die Partei auf dem Online-Portal X mit.
FDP-Vize-Präsident Andri Silberschmidt nahm den Entscheid des Bundesgerichts zur Kenntnis. Das Ergebnis der Abstimmung sei nicht nur aufgrund der Zahlen, sondern wegen des Bedürfnisses nach Gleichstellung zustande gekommen.
Auch der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV) und der Schweizerische Gewerbeverband begrüssten den Entscheid. Eine Annullierung hätte zahlreiche Fragen zum weiteren Vorgehen aufgeworfen, hiess es in einer Mitteilung. Weiter sei es im Sinne der Gleichberechtigung fair, wenn Frauen und Männer dasselbe offizielle Referenzalter haben.
Der Bundesrat nahm den Urteilsentscheid zur Kenntnis. Er warte die ausführliche schriftliche Urteilsbegründung ab und werde die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen, hiess es in einer Mitteilung. Die Korrektheit der Daten im gesetzgeberischen Prozess sei zentral für die Meinungs- und Entscheidungsfindung.
(AWP)