Ein Beispiel für die neue Normalität ist etwa das Interview in der "Sonntagszeitung" mit Willy Michel, dem Gründer und Chef der Medizinatechnikfirma Ypsomed. Es ging um die übliche bange Frage nach der Auslagerung der Produktion in billigere Länder. “Genügt Ihnen die Marge von 12,3 Prozent, die sie im ersten Halbjahr erzielt haben, nicht?” Antwort: “Nein, wenn wir in den nächsten zehn Jahren erfolgreich sein wollen, müssen wir viel Geld in die Entwicklung stecken. Dazu brauchen wir eine Betriebsgewinnmarge von 15 Prozent oder mehr.” Und weiter: “Mit dem Bekenntnis zum Werkplatz Schweiz entziehen wir unseren Aktionären Geld. Wir nehmen bewusst hin, dass wir weniger verdienen. In Amerika hätten wir mit diesem Verhalten wahrscheinlich Sammelklagen von Aktionären am Hals.”
Wie bitte? Da lesen wir ständig, dass die Pensionskassen froh sein müssen, wenn sie überhaupt noch eine Rendite erzielen, geschweige denn den Mindestzins von 1,75 Prozent. Andererseits gibt es offenbar Anleger, die mit Sammelklagen drohen, wenn ihr Kapital nicht mindestens 15 Prozent rentiert. (Ypsomed hat im 1. Halbjahr bei 241 Milliarden Eigenkapital 19,4 Milliarden Betriebsgewinn erzielt, also eine Jahresrendite von 16,1 Prozent.) Gibt es zwei Sorten von Sparern? Hier die kleinen, dort die grossen? Der Kollege von der "Sonntagszeitung" hakt nicht nach. Offenbar hat er diese neue Normalität schon verinnerlicht: Grossaktionäre setzen ihre Ansprüche durch, notfalls mit Sammelklagen.
Und wie stehts mit der Arbeit?
Und wie ist es eigentlich mit dem anderen Produktionsfaktor, der Arbeit? Dazu liefert Portugal aktuellen Anschauungsunterricht. Die neue Mehrheit, eine Links-Koalition, hat angekündigt, dass sie den Mindestlohn von aktuell 510 Euro brutto erhöhen will. Wie man davon leben kann, ist vermutlich auch den Kapitalmärkten nicht klar, doch sie haben bereits Bedenken angemeldet. Damit würden “wesentliche Reformfortschritte” zunichte gemacht. Um das zu verhindern braucht der Kapitalmarkt keine Sammelklage. Es genügt die Drohung der Rating-Agentur, Portugal zurückzustufen.
Doch zurück zu Ypsomed. Für welche wichtigen Entwicklungen wollen die Aktionäre mit 15 Prozent Rendite belohnt werden? Hat die Allgemeinheit auch etwas davon? Willy Michel behauptet es. Seine Firma will neue Insulinspritzen entwickeln, die über Funk mit Smartphones verbunden werden. Damit könnten die Diabetes-Patienten das Insulin genauer dosieren. “Fachleute schätzen das Einsparvolumen auf mehrere Milliarden Dollar.”
Das ist zu bezweifeln. Die Erfahrung zeigt, dass auch bei gut eingestellten insulinabhängigen Diabetikern der Blutzuckerspiegel nach dem Verzehr von Kohlehydraten wild schwankt, was die Krankheit weiter verschlimmert. Im besten Fall kommt es zu einer Verzögerung. Die weitaus bessere Alternative besteht darin, den Konsum von Kohlehydraten (die sich zu Glukose abbauen) für längere Zeit konsequent einzuschränken, bis sich die Bauchspeicheldrüse erholt und der Körper den Blutzucker wieder selbst regulieren kann. Das ist zwar ein paar Wochen lang etwas umständlich, ist aber in den allermeisten Fällen viel wirksamer als die beste Insulinpumpe und hat auch viel weniger Nebenwirkungen.
Zumindest nicht für die Patienten. Die Medizinindustrie hingegen müsste sich Dutzende Milliarden Umsatz ans Raucherbein streichen und auf 15 Prozent Rendite verzichten.
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