cash.ch: Herr Brem, wohin entwickelt sich der Schweizer Aktienmarkt?

Omar Brem: Die Weltkonjunktur hat sich seit Jahresanfang als robuster als befürchtet erwiesen. Insofern gehörten eher defensive und gleichzeitig vergleichsweise hoch bewertete Märkte – und damit auch der Schweizer Aktienmarkt – nicht zur ersten Wahl der Investoren. Wir gehen davon aus, dass sich die globale Konjunkturverlangsamung fortsetzt und die USA und die Eurozone in der 2. Jahreshälfte in eine milde Rezession abgleiten werden. Zudem erwarten wir, dass die global wichtigsten Zentralbanken bis zum Jahresende restriktiv bleiben. Falls dieses Szenario eintritt, dürfte die Risikofreude der Investoren abnehmen, und die Aktienmärkte hätten dann wohl mit Gegenwind zu kämpfen. Märkte mit einem hohen Anteil an defensiven Sektoren, zu denen die Schweiz zählt, würden davon profitieren.

Welchen Einfluss haben steigende Zinsen auf den Schweizer Aktienmarkt?

Gemäss unserer Einschätzung sollten die Leitzinsen kurzfristig weiter steigen und dann bis mindestens Ende des Jahres auf dem höheren Niveau verharren. Dies würde vor allem gegen Wachstumstitel sprechen, die besonders sensibel auf die Aussicht auf Zinserhöhungen reagieren.

Neigt sich die Underperformance des Schweizer Aktienmarktes also dem Ende zu?

Ja, wir gehen davon aus, dass der Wind im 2. Halbjahr dreht. Die weiter steigenden Leitzinsen dürften hoch bewerteten Regionen eher Gegenwind bringen. Sollte sich gleichzeitig die Weltkonjunktur eintrüben, wären sichere Häfen gefragt, was dem Schweizer Aktienmarkt relative Unterstützung bieten würde. Zudem wäre aus Sicht eines Schweizer Investors mit einem positiven Wechselkurseffekt über eine Franken-Aufwertung zu rechnen.

Dann tendieren Sie mehr zum SMI und weniger SPI?

In der Vergangenheit haben sich Large Caps in solchen Marktphasen meist besser geschlagen als Mid- und Small Caps. Daher dürfte sich der SMI etwas stabiler entwickeln als der SPI.

Denken Sie auch, dass viele Unternehmen ihre Gewinnerwartungen herunterschrauben müssen?

Ja, das sieht man schon jetzt an den ersten Gewinnwarnungen. Bereits haben Unternehmen wie Clariant, VAT oder Interroll Gewinnwarnungen kommuniziert. Wir gehen davon aus, dass weitere Unternehmen enttäuschen werden. Die Visibilität für das zweite Halbjahr ist sehr eingeschränkt, was sich in den Ausblicken widerspiegelt.

Sollte man bei zyklischen Werten jetzt den Gewinn mitnehmen?

Bei eher zyklischen Titeln, die relativ gut performt haben, halten wir Gewinnmitnahmen für angebracht. Das ermöglicht es, bei Kursrückschlägen wieder einzusteigen.

Bei den Wachstumstiteln hat beispielsweise Logitech schwach abgeschnitten. Wird sich das noch verschlimmern?

Wachstumstitel haben in der Regel wenig Rückenwind, wenn die Zinsen steigen. Logitech steht vor verschiedenen Herausforderungen: Erstens ist der Jahresausblick getrübt, zweitens ist unklar, wann die Talsohle beim Umsatz durchschritten sein wird. Und drittens hatten die Investoren eine Zeitlang gehofft, dass mit den Halbjahreszahlen ein gewisses Vertrauen wieder hergestellt werden kann – und dann wurde unerwartet der Abgang von CEO Bracken Darrell angekündigt, dessen langjähriger Leistungsausweis für viele Investoren zentral war.

Das führte zu einem Vertrauensverlust.

Genau. Ein Vakuum ist entstanden. Und nun muss der Verwaltungsrat zeitnah die diversen Herausforderungen angehen: den CEO-Posten besetzen und Klarheit schaffen, wann das Unternehmen wieder wachsen kann und welche Initiativen dafür zu ergreifen sind.

Mit Meyer Burger deckt die ZKB einen Titel ab, der zum Spekulationsobjekt mutiert ist. Wie schätzen Sie das ein?

Die Gesellschaft hat sich erfolgreich vom Maschinenzulieferer für die Solarindustrie zum Hersteller der Endprodukte gewandelt. Die Solarmodule des Unternehmens kommen im Markt gut an. Technologisch sind die Produkte im Highend-Segment angesiedelt und eine klare Technologie-Roadmap ist vorhanden. Zudem könnte dem Unternehmen zugutekommen, dass die Produkte aus der Schweiz, Deutschland und den USA stammen. Entsprechend gehen wir davon aus, dass Meyer Burger von der strukturellen Nachfrage nach erneuerbaren Energien stark profitieren wird. Aktuell befindet sich die Gesellschaft in einer Phase des Kapazitätsausbaus, was mit verschiedenen Herausforderungen verbunden ist.

Im letzten Jahr haben Sie auf Novartis statt Roche gesetzt. Wie sieht es jetzt aus?

Die Situation ist jetzt ausgeglichener und könnte sich zugunsten von Roche wenden, insbesondere nach dem guten Lauf von Novartis seit Ende April, als diese positive vorläufige Daten für Kisqali bei adjuvantem Brustkrebs veröffentlichte.

Und was spricht für Roche?

Der Bewertungsabschlag der Roche-Aktie gegenüber dem Pharmasektor ist gemäss unserer Einschätzung schlicht zu hoch. Bei Roche sehen wir ein Aufwärtspotenzial von 17 Prozent, bei Novartis lediglich von 9 Prozent. Zudem erwarten wir bei Roche weiterhin zunehmende Dividendenausschüttungen.

Wie sieht es bei Alcon aus: Halten Sie die Bewertung noch für attraktiv?

Ja. Alcon hat bereits wichtige Fortschritte im Transformationsprozess erzielt. Dies sollte sich auch in einer nachhaltigen Margenverbesserung niederschlagen. Zudem sollte das Unternehmen nun vermehrt auch im Vision-Care-Segment Marktanteile zurückgewinnen können, die es in den vergangenen Jahren an die Konkurrenz verloren hat. Dies verschafft der Aktie noch deutliches Kurspotenzial. Wir sehen den fairen Wert bei 85 Franken pro Aktie.

Im letzten Halbjahr haben Versicherungen schlecht abgeschnitten. Wie wird sich dieser Bereich entwickeln?

Die schlechte Entwicklung ist unter anderem auf die geänderten IFRS-17/9-Kennzahlen ab dem Geschäftsjahr 2022 zurückzuführen. IFRS 17/9 führt zu tieferen Gewinnen, da diese teilweise über die Bilanz erfasst werden, zum Beispiel Gewinnbeiträge aus dem Anlagegeschäft. Zudem sind die gestiegenen Zinsen wegen befürchteter Anlageverluste auch bei Immobilienanlagen ein Thema. Innerhalb des Sektors bevorzugen wir nach wie vor Helvetia, da die SST-Ratio per Ende 2022 bei über 330 Prozent lag und wir demzufolge bei Helvetia in den kommenden Jahren die grössten Dividendenerhöhungen erwarten.

Schwierig einzuschätzen ist aktuell die UBS-Aktie. Brauchen Anlegerinnen und Anleger hier bloss Geduld?

Wir glauben, dass die CS-Übernahme für die UBS ein sehr guter Deal ist. Die Übernahme und Integration der Credit Suisse in die UBS ist jedoch ein komplexer, langwieriger und risikoreicher Prozess. Der Markt ist entsprechend vorsichtig und wird unserer Meinung nach erst mit der Zeit eine erfolgreiche Umsetzung honorieren. Im Zusammenhang mit den Zahlen zum 2. Quartal wird ein weiteres Update der UBS erfolgen. Wir sehen verschiedene Meilensteine, an den sich Investoren orientieren können. Dazu gehören ein konkreter Zeitplan für eine mögliche Integration der CS Schweiz in die UBS, die Reduktion der CS- Kostenbasis und der Abbau der risikogewichteten Aktiven aus dem CS-Investment-Banking im Verlauf der Zeit.

Accelleron hingegen gehört zu Ihren Favoriten 2023, im Moment bewegt sich die Aktie jedoch seitwärts.

Auch 9 Monate nach dem Spin-off weist die Aktie noch deutliches Kurspotenzial auf – wir sehen einen fairen Wert von 28 Franken. Das Unternehmen verfügt über einen hohen Anteil an Serviceverträgen, die 75 Prozent zum Umsatz beitragen. Zudem könnte die Dividende in den kommenden Jahren unter Berücksichtigung der «Capital Allocation Policy» noch deutlich gesteigert werden. Weitere Kursimpulse erwarten wir mit der Publikation des ersten Nachhaltigkeitsberichts im Verlauf der nächsten Monate. Dieser sollte es weiteren potenziellen Investoren ermöglichen, aufgrund eines guten Nachhaltigkeits-Ratings in das Unternehmen zu investieren.

Gerade während der Coronapandemie wurde die Strategie «buy the dip» sehr populär. Ist sie noch zeitgemäss?

Die Frage ist, wann der Dip tatsächlich da ist. Wir empfehlen eher, gestaffelt zu investieren und dem Market-Timing keine allzu grosse Bedeutung beizumessen. Wichtiger ist es, in Unternehmen von hoher Qualität und mit einem guten Managementteam zu investieren. Daher empfehlt es sich, eine Einkaufsliste mit interessanten Gesellschaften zu führen und bei grösseren Korrekturen einzusteigen. Wichtig ist, dass man das Business-Model des Unternehmens versteht und vom Investment-Case überzeugt ist.

Im letzten Interview mit cash vor drei Jahren haben Sie SoftwareOne als Perle bezeichnet. In der Zwischenzeit ist die Aktie gesunken. Ist das Unternehmen noch immer eine Perle?

Ja, das Unternehmen hat in den vergangenen 18 Monaten viele seiner Defizite angegangen. Die Governance wurde gestärkt – die Positionen von CEO und VR-Präsident wurden jüngst neu besetzt. Zudem hat der CFO ein umfassendes Effizienzprogramm lanciert, und der Verwaltungsrat hat ein erstes seit Langem gefordertes Programm für Aktienrückkäufe verabschiedet. Dies war noch nicht vollständig im Aktienkurs reflektiert, als das Übernahmeangebot von Bain Capital angekündigt wurde. Nun ist es am Verwaltungsrat, die beste Lösung für die Aktionäre zu finden.

Als Sie 2020 die Research-Abteilung bei der ZKB übernahmen, gab es einige Personalwechsel. Welche Eigenschaften braucht eine Abteilung wie Ihre heutzutage?

Als Analyst muss man sich immer weiterentwickeln. Ein Beispiel hierfür ist die umfassende Nachhaltigkeitsanalyse, die wir im vergangenen Jahr auf der Aktienseite lanciert haben. Gerade bei kleineren Unternehmen ist die Informationsbasis meist sehr schwach; umso wichtiger ist hier eine ganzheitliche Analyse der wichtigen Aspekte: Geht das Unternehmen die Nachhaltigkeitsthemen an? Das ist nicht schwarz-weiss, und nur ein hervorragendes Analyseteam wird hier zu klaren Erkenntnissen gelangen. Damit man hier Mehrwert bieten kann, sind ein vertieftes Verständnis des Unternehmens und ein guter Dialog mit den wichtigen Unternehmensvertretern zentral.

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