Die Gespräche für die rund 580 000 Branchen-Beschäftigten zählen zu den wichtigsten Tarifverhandlungen in nächster Zeit neben denen in der Metall- und Elektroindustrie sowie für den Öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen. Tarifrunden stehen derzeit besonders im Fokus wegen der hohen Inflation: Während die Gewerkschaften hohe Lohnsteigerungen durchsetzen wollen, warnen manche Ökonomen vor einer Lohn-Preis-Spirale, welche die Inflation noch anheizen könnte.
Vor der dritten Runde am Sonntag in Wiesbaden hat die IG BCE wegen der rasant gestiegenen Verbraucherpreise auf "starke und nachhaltige Entgelterhöhungen" gepocht, wie Verhandlungsführer Ralf Sikorski sagte. Die Gewerkschaft verlangt auch dauerhafte Lohnsteigerungen in den Tariftabellen. Die Chemie-Arbeitgeber verweisen dagegen auf eine trübe Lage vieler Firmen in der energieintensiven Branche.
Schon bei den Gesprächen im Frühjahr hatte die IG BCE Gehaltssteigerungen oberhalb der Inflationsrate für die Chemie- und Pharmabranche gefordert, aber keine konkrete Zahl genannt. Angesichts einer Inflation von 10 Prozent im September ist das kaum zu schaffen.
Wegen der Unsicherheit um den Ukraine-Krieg hatten sich IG BCE und BAVC im April zunächst auf einen Teilabschluss als Brückenlösung geeinigt, die Ende Oktober ausläuft: eine Einmalzahlung von 1400 Euro pro Beschäftigtem und 1000 Euro bei Firmen in wirtschaftlicher Not.
Die einstige Hoffnung, dass sich die wirtschaftliche Lage bis Herbst bessern könnte, hat sich aber zerschlagen. Die Inflation hat seither noch angezogen und die Gaskrise für die Chemie hat sich zugespitzt. So erwartet der Verband der Chemischen Industrie, dass die Produktion in der Chemie- und Pharmabranche dieses Jahr um 5,5 Prozent sinkt. Und die Geschäftserwartungen in der Chemie-Industrie haben im September laut Ifo-Institut ein Tief seit dem Jahr 1991 erreicht. Der Chemiekonzern BASF kündigte bereits ein Sparprogramm an.
Die Ausgangslage für die Branche mit Energiekrise, hoher Inflation und einem Produktionsrückgang um 12 Prozent seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine sei so schwierig wie selten zuvor, sagte BAVC-Verhandlungsführer Hans Oberschulte. "Viel Spielraum für tabellenwirksame, also dauerhafte Tariferhöhungen gibt es nicht."
Helfen könnten nun Flexibilitätsklauseln und erneute Einmalzahlungen, zumal die Bundesregierung beschlossen hat, letztere in Höhe von bis zu 3000 Euro je Arbeitnehmer von Steuern und Abgaben zu befreien.
Trotz aller Differenzen sehen die Tarifparteien Chancen auf eine Einigung in Wiesbaden. Die Branche habe derzeit schon genug Probleme, sagte Oberschulte jüngst der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". "Wir wollen dem Oktober eine Chance geben." Und IG-BCE-Verhandlungsführer Sikorski betonte, die Leute in den Betrieben wollten Lösungen sehen.
Ohnehin ist die Chemie- und Pharmabranche nicht für eskalierende Tarifkonflikte bekannt. Streiks hat es hier seit mehr als 50 Jahren nicht mehr gegeben - der letzte fand im Jahr 1971 statt./als/DP/ngu
(AWP)