Die EU-Kommission erwartet in ihrer am Donnerstag vorgestellten Sommerprognose für dieses Jahr nur noch einen Zuwachs beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2,6 Prozent. Im Frühjahr hatte sie noch 2,7 Prozent veranschlagt. 2023 soll dann nur noch ein mageres Plus von 1,4 Prozent herausspringen - statt der bisher erwarteten 2,3 Prozent.

Falls Russland der EU den Gashahn komplett zudrehe, drohe in der zweiten Jahreshälfte 2022 eine Rezession, warnte EU-Kommissar Paolo Gentiloni. Angesichts der jüngsten Entwicklungen sei dies mehr als nur ein hypothetisches Szenario: "Ein Sturm ist möglich, aber soweit sind wir noch nicht", fügte der Italiener hinzu.

In Europa habe das Hochfahren der Wirtschaft nach der Coronavirus-Pandemie zwar das Wachstum angekurbelt. Doch trotz einer vielversprechend angelaufenen Urlaubssaison im Sommer sei im zweiten Halbjahr auch beim Ausbleiben eines Krisen-Szenarios nur mit gedämpften Wirtschaftsaktivitäten zu rechnen, ergänzte der Wirtschafts- und Währungskommissar.

Gasnachfragen reduzieren

Die EU-Kommission ermutigt die 27 EU-Mitgliedsstaaten zugleich, die Gasnachfrage durch ein Bündel von Massnahmen zu reduzieren und damit die Gefahr eines Gasmangels im Winter zu senken. "Wenn wir jetzt handeln, könnten die Auswirkungen einer plötzlichen Versorgungsunterbrechung um ein Drittel reduziert werden", heisst es in dem Reuters vorliegenden ersten Entwurf für einen Gasnotfallplan. Brüssel will diesen am 20. Juli offiziell vorstellen.

Vorgeschlagen wird unter anderem, dass öffentliche Gebäude nicht mehr so stark beheizt werden. Die Kommission schlägt hier eine Obergrenze von 19 Grad vor. Ausserdem folgt sie den Vorstellungen der Bundesregierung, Unternehmen finanzielle Anreize zu geben, auf Gasverbrauch zu verzichten - etwa über Auktionen. Firmen sollen aber auch beim Umstieg auf andere Energieträger national gefördert werden können.

«Schockwellen in der Weltwirtschaft»

Hintergrund ist die Sorge, dass Russland seine Gaslieferungen auch nach dem Ende der turnusmässigen Wartung der Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 am 21. Juli nicht wieder voll aufnimmt. Nach den Berechnungen der Kommission würde ein vollständiger Stopp der russischen Gaslieferungen dann dazu führen, dass die EU-Vorgabe verfehlt wird, bis November die Gasspeicher auf 80 Prozent zu füllen.

Zugleich rechnet die Brüsseler Behörde für dieses Jahr nun mit einer im Zuge der Energiekrise anziehenden Teuerungsrate von 7,6 Prozent (bisher 6,1 Prozent) im Euroraum. Gentiloni sieht die Folgen des Krieges als Treiber der Entwicklung: "Russlands grundlose Invasion der Ukraine sendet weiter Schockwellen durch die Weltwirtschaft." Dadurch würden die Energie- und Getreideversorgung durcheinandergebracht. In der Folge stiegen die Preise und das Vertrauen leide, betonte der Italiener.

Inflation soll 2023 nachgeben

Es sei zu erwarten, dass die Rekordinflation in diesem Jahr ihren Gipfel erreiche und 2023 schrittweise nachgeben werde. Auch 2023 ist laut der EU-Kommission aber zu erwarten, dass die Europäische Zentralbank (EZB) ihr Ziel von 2,0 Prozent bei einer Inflationsrate von voraussichtlich 4,0 (Frühjahrsprognose: 2,7) Prozent deutlich verfehlt.

Für Deutschland erwartet die EU-Kommission 2022 eine Teuerungsrate von 7,9 Prozent und für 2023 von 4,8 Prozent. Ihre Prognose für das Wirtschaftswachstum schraubte sie zugleich für dieses Jahr auf 1,4 von 1,6 Prozent zurück. Für 2023 erwartet sie ein Plus in Deutschland von 1,3 (Frühjahrsprognose 2,4) Prozent.

Die Konjunktur ist hierzulande nach Einschätzung der Bundesregierung trotz des Ukraine-Kriegs im ersten Halbjahr solide gelaufen. "Allerdings sorgen Unsicherheiten über die Fortsetzung russischer Gaslieferungen für einen merklich eingetrübten Ausblick ins zweite Halbjahr", teilte das Bundeswirtschaftsministerium mit. So drücke die offene Frage, ob Russland den Gashahn zudrehen könnte, auf die Stimmung.

(Reuters)