Meteorologisch betrachtet befinden sich unsere Breitengrade im vierten Monat des Jahres im Frühling. Und doch dürfte im April 2019 bei vielen Menschen gefühlt noch einmal der Winter Einzug halten. »Winter is coming« – diesen Titel trug die erste Folge von »Games of Thrones«, kurz GoT. Seit die Serie im April 2011 auf dem US-Sender HBO ihre Premiere erlebte, ist sie fest mit diesem Slogan verbunden. Gleichzeitig zieht das Fantasy-Epos die Menschen rund um den Globus in seinen Bann. Genau sieben Jahre später geht der preisgekrönte Kampf um Westeros in die achte und finale Staffel.
GoT ist mehr als ein Publikumserfolg. Die Produktion steht sinnbildlich für den rasanten Wandel der Medienbranche. Digitalisierung und Breitband-Internet machten es möglich, dass die Konsumenten nicht mehr an ein festes Programmschema oder den Kauf von DVDs und CDs gebunden sind. Vielmehr können sie Filme, Serien und Musik wann und wo sie möchten via PC, Tablet, Smartphone oder internetfähigem TV-Gerät abrufen – das Substantiv »Streaming« ist als Oberbegriff für diese moderne Art der Mediennutzung sogar im Duden aufgeführt.
Nahezu mustergültig steht Netflix für den skizzierten Umbruch. 2007 wandelte sich das US-Unternehmen vom Online-DVD-Verleih zum Streamingdienstleister. Sechs Jahre später schrieb Netflix mit »House of Cards« Geschichte. Die Plattform stellte die ersten 13 Folgen der Eigenproduktion gleichzeitig online und machte damit das sogenannte Binge-Watching möglich. Das heisst, die Nutzer konnten die komplette Staffel in einem Durchlauf ansehen. Der Aufstieg des skrupellosen Kongressabgeordneten Francis Underwood zum Präsidenten der USA begeisterte das Publikum. Die sechste und letzte Staffel von »House of Cards« hat Netflix im vergangenen Herbst als ein Unternehmen veröffentlicht, das nur noch schwer mit der Anfangszeit des Politthrillers zu vergleichen war. Mit 130,4 Millionen zahlenden Abonnenten übertraf die Nutzerzahl im dritten Quartal 2018 das Niveau von Anfang 2013 um den Faktor 3,8 (siehe Grafik 1).
Grafik 1: Abonnentenzahl Netflix
Stand: Dezember 2018; Quelle: Netflix
Kostspielige Content-Maschine
Die in 190 verschiedenen Ländern beheimateten Nutzer versorgt Netflix permanent mit neuem Stoff. Neben lizenzierten Serien, Filmen und Dokumentationen setzt das Unternehmen vor allem auf Eigenproduktionen. Die sogenannten Netflix-Originale spielen sich rund um den Globus ab. Beispielsweise verfügt der Konzern über weit mehr als 100 asiatische Titel. CEO Reed Hasting greift dafür tief in die Tasche. Allein für 2018 rechnete er für die Inhalte mit Kosten von 8 Milliarden US-Dollar. Obwohl Netflix schwarze Zahlen schreibt, reicht das verdiente Geld bei Weitem nicht aus, um das Programm zu finanzieren. Allein in den ersten drei Quartalen 2018 betrug der Mittelabfluss (Free Cash Flow) 1,7 Milliarden US-Dollar. Um die Content-Maschine am Laufen zu halten, ist das Management auf Fremdkapital angewiesen. Im Oktober hat Netflix zwei Obligationen in einem Volumen von umgerechnet zusammen mehr als 2 Milliarden Schweizer Franken aufgenommen. Damit dürfte der Schuldenberg auf mehr als 10 Milliarden Schweizer Franken angewachsen sein.
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die Netflix-Aktie ausgerechnet 2018, als in den USA die Zinsen deutlich anzogen, aus dem Tritt geraten ist. Gegenüber dem noch im Juni erreichten Allzeithoch gab der Nasdaq-Titel um nahezu 40 Prozent nach (siehe Grafik 2). Gleichwohl notierte die Aktie kurz vor Weihnachten 35 Prozent über dem 2017er-Schlussstand. Damit zählte Netflix auch im vergangenen Jahr zu den Top-Performern im Nasdaq-100-Index.
Grafik 2: Wertentwicklung Netflix (fünf Jahre)
Stand: Dezember 2018; Quelle: Reuters
USA als Streaming-Eldorado
Das Prädikat »Outperformer« trug der Streaming-Pionier auch im Vergleich mit den Konkurrenten Apple und Amazon. Die beiden Techgiganten haben das Potenzial digitaler Medieninhalte längst erkannt und buhlen mit eigenen Angeboten um die Gunst der »Serienjunkies«. Das gilt auch und gerade für die Heimat: Laut Statista waren die USA mit einem geschätzten jährlichen Umsatzvolumen von weit mehr als 10 Milliarden US-Dollar 2018 der mit Abstand grösste Markt für Video-Streaming. Ob und inwieweit das genannte Duo Netflix das Wasser reichen kann, lässt sich nur bedingt sagen. Die breit aufgestellten Konzerne gewähren kaum oder nur bedingt Einblick in das wirtschaftliche Ausmass der Streaming-Aktivitäten. Apple verbuchte die Umsätze mit digitalen Inhalten unter »Services«. Im vierten Quartal des Fiskaljahres 2018 (per 29. September) entfielen knapp 16 Prozent der Konzernerlöse auf das Segment, zu dem allerdings auch der Bezahldienst ApplePay sowie der Supportservice AppleCare zählen.
Weniger das Mediengeschäft als vielmehr der Ausblick von CEO Tim Cook dürfte für die jüngste Korrektur der Apple-Aktie hauptverantwortlich sein. Der Topmanager hatte für das wichtige Weihnachtsquartal Umsätze von 89 bis 93 Milliarden US-Dollar vorhergesagt. Damit würde das Unternehmen nur im optimalen Fall den bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Analystenkonsens erreichen. Am 30. Januar wird sich zeigen, ob das iPhone auch an Weihnachten 2018 rund um den Globus ein beliebtes Geschenk war – das Smartphone ist und bleibt für die Kalifornier von zentraler Bedeutung.
Derweil jagt Amazon den technologischen Megatrends hinterher. Sei es Cloud, Künstliche Intelligenz oder Big Data: Der Internethändler baut sein Tätigkeitsfeld permanent aus. Gemessen an den Umsätzen spielt das Prime-Angebot, zu diesem Service zählt unter anderem das Streaming von Musik und Videos, eine eher untergeordnete Rolle. Gleichwohl ist das Wachstum enorm: Im dritten Quartal steigerte Amazon im Segment »Subscription services« die Erlöse um mehr als die Hälfte auf knapp 3,7 Milliarden US-Dollar. Obwohl die Börsenkorrektur die Amazon-Aktie nicht kaltliess, stand für sie kurz vor Silvester ein 2018er-Plus von rund einem Viertel zu Buche.
TV-Konzern wagt Gegenangriff
Derweil hatten die Anteilseigner von ProSiebenSat.1 im vergangenen Jahr nichts zu lachen. Vielmehr schrumpfte die Kapitalisierung der Sendergruppe um 45 Prozent zusammen (siehe Grafik 3). Obwohl ProSiebenSat.1 frühzeitig auf digitale Inhalte gesetzt hat, macht der Aufstieg von Netflix & Co. den Münchnern schwer zu schaffen. Anfang November 2018 zog der neue CEO Max Conze die Reissleine: Um mehr Geld für Investitionen zur Verfügung zu haben, kündigte er eine Kürzung der Ausschüttungsquote an. Anstatt wie bisher 80 bis 90 Prozent als Dividenden an die Aktionäre weiterzugeben, soll in Zukunft nur noch die Hälfte des Profits ausgekehrt werden. Dem nicht genug: ProSiebenSat1. musste Fehler beim Einkauf von Programmlizenzen einräumen. Weil Serien aus den USA beim Publikum nicht gut ankommen, möchte das Management mit den Studios nachverhandeln. Sollten die Verantwortlichen in den Staaten abblitzen, drohen hohe Abschreibungen.
»Wir stossen jetzt die notwendigen Veränderungen und Investitionen an, um aus ProSiebenSat.1 ein absolut digitales, diversifiziertes und schnell wachsendes Unternehmen zu machen«, erklärte der CEO die strategische Neuausrichtung. Zu deren zentralen Elementen zählt ein Gegenangriff auf Netflix. ProSiebenSat.1 hat sich dazu mit dem US-Fernsehunternehmen Discovery zusammengetan. Im ersten Semester soll die gemeinsame Streaming-Plattform 7TV an den Start gehen und anschliessend zum führenden Anbieter in Deutschland aufsteigen. Konkret peilen die Partner innerhalb der ersten beiden Jahre zehn Millionen Nutzer an.
Grafik 3: Wertentwicklung ProSiebenSat.1 (fünf Jahre)
Stand: Dezember 2018; Quelle: Reuters
Musik in den Ohren
Bei Spotify Technology könnte die Zahl der User Ende 2018 über die Marke von 200 Millionen geklettert sein. Das Management des schwedischen Musik-Streaminganbieters hatte für das vierte Quartal 199 bis 206 Millionen »Monthly Active Users«, kurz MAU, prognostiziert. Davon sollte es sich bei knapp jedem Zweiten um einen zahlenden Premium-Abonnenten handeln. Das 2006 in Stockholm gegründete Unternehmen hat einen massgeblichen Anteil daran, dass die globale Musikindustrie wieder wächst. Dank Streaming kam der Sektor über das Aussterben der CD als klassischem Tonträger hinweg (siehe Grafik 4). Dabei war Spotify bei so manchem Künstler lange Zeit als eine Art Totengräber verpönt. Mittlerweile bieten mit Universal, Sony und Warner die drei führenden Musikhäuser ihre gigantischen Kataloge auf der Plattform an.
Nicht zuletzt diese Tatsache bescherte den Skandinaviern ein erfolgreiches Börsendebüt. Nachdem die Aktie im April 2018 in New York kotiert wurde, verteuerte sie sich gegenüber dem ersten Kurs um bis zu knapp ein Fünftel. Mittlerweile ist Moll die vorherrschende Tonart: Spotfiy notiert deutlich unter dem Anfangsniveau. Neben dem neuen Argwohn gegenüber Wachstumswerten könnte die Sorge vor einem Auslaufen der Zusammenarbeit mit den Musikriesen auf dem Kurs lasten. Das Unternehmen ist in hohem Masse auf den Content der grossen Drei angewiesen. Allerdings dürfte angesichts der immensen Reichweite der Plattform auch für die Majors nur schwer ein Weg an Spotify vorbeiführen.
Grafik 4: Weltweiter Umsatz Musikindustrie (nach Segmenten)