Interview mit Nicolas Voinchet, Head of Equity Thematics BNP Paribas CIO Office Paris

MÄRKTE & ZERTIFIKATE: Herr Voinchet, in einer jüngst veröffentlichten Studie stellen Sie die Frage, ob Deutschland es schaffen wird, die Schuldenbremse zu „überwinden“ oder ob das Land mit Ach und Krach gegen die Wand donnert? Sie äussern die Hoffnung, dass die Schuldenbremse „überwunden“ wird. Aber was haben Sie denn gegen die Schuldenbremse? Eigentlich war sie doch mal dazu da, die Finanzen des Landes in Ordnung zu bringen. Dagegen kann man doch nichts haben, oder?

Nicolas Voinchet: Natürlich nicht. Wenn die Finanzen anderer grosser Länder so solide wären wie die Deutschlands, mit einer so niedrigen und zudem sinkenden Schuldenquote, könnten die globalen Wirtschaftsprognosen weit optimistischer ausfallen, als sie derzeit sind. Dennoch hat Deutschland ein strukturelles Wachstumsproblem, das über ein zyklisches hinausgeht. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat zu einer signifikanten Verlangsamung der deutschen Wirtschaft geführt, die durch die Abhängigkeit des deutschen Modells von Exporten in ein „China in der Krise“ und ein protektionistisches Amerika unter der Präsidentschaft von Donald Trump verstärkt wurde. Diese Verlangsamung schien zunächst zyklisch, aber es wird mehr und mehr klarer, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt.

MÄRKTE & ZERTIFIKATE: Aber deswegen ist die Schuldenbremse noch längst nicht hinfällig?

Nicolas Voinchet: Doch. Deutschland liegt bei den öffentlichen Ausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zu vielen anderen Ländern deutlich zurück. Gleichzeitig ist die Infrastruktur veraltet und es müsste dringend in das Militär investiert werden. Vor diesem Hintergrund muss der deutsche Bundeshaushalt deutlich expansiver werden als in den zurückliegenden Jahren. Vor allem auch deswegen, weil etwa Ausgaben für die Modernisierung und Erweiterung der Infrastruktur am Ende produktiv wirken, also zu einer Steigerung der Bruttowertschöpfung beitragen. Deutschland hätte unter diesem Gesichtspunkt viele gute Möglichkeiten, unter Aufweichung der Schuldenbremse produktive Investitionen zu starten, die dem Land und dem Wachstum guttun würden.

MÄRKTE & ZERTIFIKATE: Zum Beispiel?

Nicolas Voinchet: Etwa Investitionen in den Klimaschutz, in Solar- und Windkraftanlagen, bei denen Deutschland lange Zeit auch führend war, bis es seine Spitzenposition an China verloren hat.

MÄRKTE & ZERTIFIKATE: Sie bezeichnen in der Studie Deutschland als „kranken Mann“ Europas. Ist das nicht etwas übertrieben? Immerhin ist Deutschland die grösste Volkswirtschaft in Europa. Und auch wenn die Gesamtwirtschaft schwächelt, einzelne Branchen wachsen ja durchaus, wie die Digitalbranche. Warum also ist Deutschland „krank“?

Nicolas Voinchet: Nun, Zahlen lügen bekanntlich nicht. Und die zeigen, dass das deutsche Wachstumsmodell nicht mehr funktioniert, insbesondere im Vergleich zu anderen Staaten in Europa wie Spanien und Italien. Da hilft es auch nicht, dass einzelne Branchen wachsen. Die Digitalbranche, die Sie ansprechen, genau hier kränkelt Deutschland ja auch. Künstliche Intelligenz, Cloud, Robotik und und und; auf keinem dieser Gebiete ist Deutschland als Vorreiter zu finden.

MÄRKTE & ZERTIFIKATE: Also ist Deutschland ein hoffnungsloser Fall?

Nicolas Voinchet: Nein, so würde ich das auch nicht sagen. Deutschland ist immer noch das Land, das in Europa am ehesten in der Lage dazu wäre, eine führende Rolle in der Wirtschaft zu übernehmen und Europa sowohl ökonomisch wie geopolitisch auf der Weltbühne wieder ins Spiel zu bringen.

MÄRKTE & ZERTIFIKATE: Und vor diesem Hintergrund gewinnen die anstehenden Bundestagswahlen enorm an Bedeutung. Was müsste in Berlin passieren, um Deutschland wieder nach vorne zu bringen?

Nicolas Voinchet: Konkrete Wahlergebnisse wollen wir hier nicht aussprechen, aber Knackpunkt wäre eine Lockerung der Schuldenbremse, um produktive Investitionen zu ermöglichen. Dies würde wahrscheinlich besser klappen, wenn kleinere Parteien, die diesbezüglich eher zu den Befürwortern der Schuldenbremse gehören, keine grössere Rolle in der zukünftigen Regierung spielen würden. Wenn es zu einer Koalition nur aus CDU und SPD oder aus CDU, SPD und Grüne kommen würde, hätte man wahrscheinlich die besten Chancen, die Schuldenbremse sinnvoll aufzuweichen.

MÄRKTE & ZERTIFIKATE: Wenn das passiert, so haben Sie in Ihrer Studie ausgeführt, hätte vor allem der MDAX grösseres Potenzial. Das erklären Sie uns bitte.

Nicolas Voinchet: Schauen Sie, der MDAX ist seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine um etwa zehn Prozent gefallen, während der DAX um über 50 Prozent gestiegen ist und der MCXP, der Index für europäische Mittelstandsunternehmen, um 20 Prozent zugelegt hat. So, wie man Deutschland als „kranken Mann Europas“ bezeichnen könnte, könnte man den MDAX als „kranken Index Deutschlands“ bezeichnen. Aber, und das ist hier entscheidend, der MDAX ist nicht allein ein Kauf, weil er so massiv „underperformed‟ hat und seine Bewertung sehr attraktiv geworden ist. Es kommen mindestens drei weitere Faktoren ins Spiel, von denen jeder ein Treiber für den Index sein könnte und deren Eintrittswahrscheinlichkeiten sich im laufenden Jahr summieren.

MÄRKTE & ZERTIFIKATE: Dann lassen Sie uns mal diese drei Faktoren besprechen. Faktor eins.

Nicolas Voinchet: Faktor eins, die EZB wird im laufenden Jahr möglicherweise die Zinsen stärker senken als die Prognosen vermuten lassen. Passiert das, würde das die Bereiche Immobilien und Nicht-Basiskonsumgüter stützen. Diese sind wiederum im MDAX stark vertreten. Diese Bereiche reagieren traditionell sehr positiv auf geldpolitische Lockerungen.

MÄRKTE & ZERTIFIKATE: Faktor zwei.

Nicolas Voinchet: Faktor zwei, das ist die Bundestagswahl und die damit verbundene Hoffnung auf eine Aufweichung der Schuldenbremse. Davon würde vor allem auch der MDAX profitieren. Als „Mittelstandsindex“ bildet der MDAX nämlich das Rückgrat der deutschen Wirtschaft ab.

MÄRKTE & ZERTIFIKATE: Faktor drei.

Nicolas Voinchet: Ein Waffenstillstand in der Ukraine. Davon würden alle Werte, auch DAX-Aktien, profitieren, aber insbesondere eben auch der MDAX. Denn ein Kriegsende würde das Verbrauchervertrauen stärken und die Industrie entlasten. Beides käme vielen MDAX-Werten zugute.

Es ist die Summe dieser drei Faktoren, die uns dazu bringt, auf den MDAX zu schauen. Aber Sie werden uns nicht sagen hören, dass der MDAX ein Index ist, der in jedem Fall steigen wird. Der Index bleibt stark zyklisch und die wirtschaftliche Ausgangslage in Deutschland ist schlecht. Aber wir haben uns dafür entschieden, auf eine wirtschaftliche Erholung in Deutschland zu setzen, auf einen positiven Wahlausgang und auf eine konstruktive Debatte, wie dieses Land wieder nach vorne gebracht werden kann.

MÄRKTE & ZERTIFIKATE: Ohne Schuldenbremse…

Nicolas Voinchet: Ja, eine Beibehaltung der Schuldenbremse in ihrer aktuellen Form birgt das Risiko, „schuldenfrei zu sterben“.

MÄRKTE & ZERTIFIKATE: Herr Voinchet, vielen Dank für das interessante Gespräch.

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