Fast viereinhalb Jahre nach der Pleite des einst gefeierten Dax-Konzerns verhandelt das Bayerische Oberste Landesgericht ab gestrigem Freitag in München über die Schadenersatzforderungen von rund 27.500 Anlegern. Die mutmasslich milliardenschweren Ansprüche richten sich unter anderem gegen den früheren Wirecard-Chef Markus Braun, gegen die Insolvenzverwalter des zusammengebrochenen Zahlungsdienstleisters und von Brauns Vermögensverwaltungsgesellschaft sowie gegen das Wirtschaftsprüfungsunternehmen EY (Ernst & Young). Sie alle wehren sich gegen die Forderungen.

Der Prozess nach dem sogenannten Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) bündelt Kernfragen Tausender Einzelprozesse, die vor dem Landgericht München anhängig sind. Aufgrund der Masse an Beteiligten hat das Oberste Landesgericht für den Verhandlungsauftakt eine Halle am Rande des Münchner Messegeländes angemietet. Es handelt sich um die Empfangshalle des früheren Flughafens München-Riem, auf dessen Areal in den 1990er Jahren die Messe errichtet wurde. Die sogenannte Wappenhalle aus den 1930er Jahren ist 700 Quadratmeter gross und elf Meter hoch und wird auch als Event-Location vermarktet.

Zwar werden zur Gerichtsverhandlung am Freitag (22. November) und einem möglichen ersten Fortsetzungstermin am Montag (25. November) bei weitem nicht alle Beteiligten erwartet. Das Gericht ist jedoch auf insgesamt rund 400 Anwesende vorbereitet. «Im Sitzungssaal stehen Plätze für mindestens 250 Zuhörer zur Verfügung», erklärte eine Sprecherin. Die Justiz ist mit rund 50 Personen am Start - mit dem fünfköpfigen Ersten Zivilsenat unter dem Vorsitz von Gerichtspräsidentin Andrea Schmidt sowie mit 45 Mitarbeitern, darunter zahlreiche Wachtmeister. Vonseiten der Prozessparteien werden rund 90 Personen erwartet, überwiegend Rechtsanwälte.

Ob sich prominente Gesichter blicken lassen, ist offen. Braun muss laut Gesetz nicht persönlich kommen. Er lässt sich von seinen Anwältinnen vertreten, wie Rechtsanwältin Theres Krausslach der Nachrichtenagentur Reuters sagte. Der frühere Wirecard-Chef, der alle Vorwürfe zurückgewiesen hat, sitzt wegen des separaten Strafprozesses in Untersuchungshaft. Vor dem Landgericht München wirft die Staatsanwaltschaft ihm und zwei weiteren Ex-Managern Bilanzfälschung, Betrug und Marktmanipulation vor. Ein Urteil wird frühestens im kommenden Jahr erwartet. Auch die Schadenersatzprozesse der Anleger dürften sich noch Jahre hinziehen.

Der Münchner Zahlungsdienstleister Wirecard brach im Juni 2020 zusammen. Damals war aufgeflogen, dass dem Konzern auf Treuhandkonten in Asien 1,9 Milliarden Euro fehlten. Grossinvestoren, Banken und Kleinaktionäre verloren Milliarden. Die Wirtschaftsprüfer von EY, die die Bilanzen abgesegnet hatten, wiesen eine Mitverantwortung für die Schäden zurück.

Kaufmann als Musterkläger

Vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht geht es um gemeinsame Fragen von rund 8500 Einzelprozessen am Landgericht München. Erst nach einem Urteil in dem sogenannten Musterverfahren kann später das Landgericht individuelle Urteile fällen. Allein diese Schadenersatzforderungen summieren sich nach Gerichtsangaben auf rund 750 Millionen Euro. Weitere 19.000 Anleger, die nicht vor dem Landgericht klagen, haben Ansprüche direkt beim Obersten Landesgericht angemeldet. Die Summe dieser Forderungen ist nach Gerichtsangaben nicht erfasst. Beobachter gehen von Gesamtforderungen in Milliardenhöhe aus.

Stellvertretend für alle Kläger ist der Kaufmann und Wirecard-Anleger Kurt Ebert vom Obersten Landesgericht zum sogenannten Musterkläger ernannt worden. Er will das Verfahren (Aktenzeichen: 101 Kap 1/22) mit dem Münchner Rechtsanwalt Peter Mattil durchfechten. 

(Reuters)