Die Bilanzsaison des Sommers 2021 sieht aus, als hätte es den Frühling 2020 mit dem heftigen Coronaeinbruch nie gegeben. Deprimierende Prognosen eines jahrenlangen Kriechgangs der Wirtschaft sind vergessen. Mit wenigen Ausnahmen haben die Unternehmen im Schweizer Aktienmarkt für das erste Halbjahr sehr gute Umsatz- und Gewinnzahlen vorgelegt und mit diesen die Erwartungen meist mehr als erfüllt. Dazu wurden Prognosen erhöht und steigende Gewinne in Aussicht gestellt.
"Prognosen übertroffen", "positive Profitwarnung" und "Erhöhung der Guidance" ist die Art von Musik, die Anlegerinnen und Anleger in Aktien in den Ohren haben wollen. Zahlen können allerdings "zu gut" sein. Beim Anlegerliebling Logitech wurden starke Wachstumszahlen mit Gewinnmitnahmen und rund 10 Prozent Kursrückgang in den vergangenen Handelstagen quittiert. Darüber hinaus reichende Befürchtungen, dass "peak recovery" erreicht sei und dem Wachstumschub die Kraft ausgehen könnte, belasten die Märkte generell.
Institutionelle sind zurückhaltend
Der Vertriebschef Aktien von Mirabaud Securities, Eugi Burgener, beobachtet im Zuge der Berichtssaison eine wachsende Skepsis am Markt: "Institutionelle Investoren sind zurückhaltender als private Akteure." Hohe Bewertungen stimmten die Institutionellen vorsichtiger.
Bei der weiteren Entwicklung der EBIT-Margen, die bis jetzt auch von tieferer Reisetätigkeit und weniger Marketingausgaben profitiert hätten, gebe es Fragezeichen: "Noch höhere Margen zu erreichen wird immer schwieriger." Galenica beispielsweise, das schon das zweite Mal die Prognose erhöht habe, werde für dieses Jahr die Guidance wohl kaum ein drittes Mal erhöhen. Bei vielen Unternehmen stünden weitere Sorgen im Raum, etwa in der Form von steigenden Rohstoffpreisen wie bei Nestlé, dem derzeit wieder aufwertenden Franken oder höheren Covid-19-Ansteckungsraten, wo ja China im Moment wieder ein Hotspot geworden sei.
Der Euro ist zum Franken so schwach wie zuletzt im November 2020 (12-Monate-Chart, Quelle: cash.ch.)
Er müsse den Firmen sicherlich ein Kompliment für die guten Zahlen machen, sagt Burgener: "Es gibt noch da und dort Nachholbedarf nach der Krise, und allzu negativ muss man jetzt noch nicht urteilen". Trotzdem ist vieles schon eingepreist. Bossard etwa stieg alleine im Monat Juni an der Börse um 28 Prozent. Mitte Juli wurde das beste Halbjahr in der Firmengeschichte berichtet, aber der Kurs vermochte nach dem Resultat nicht mehr steigen.
Gewinnwachstum versus Bewertungen
Auch bei amerikanischen Aktien geht das Seilziehen zwischen Gewinnwachstum und Bewertungen weiter. Der oberflächliche Eindruck ist seit Jahren derselbe: Die Investoren setzen letztlich auf das Gewinnwachstum und lassen sich von den gestiegenen Bewertungen nicht abschrecken. Nur zeigt sich bei grossen US-Tech-Aktien ein Muster: Sie berichteten zwar um Milliarden höhere Gewinne und liessen die Prognosen der Analysten mickrig aussehen. Doch die Aktienkurse von Apple, Google-Alphabet oder Microsoft bewegen sich seit den Resultatsberichten vergangene Woche nicht nach oben.
Zu Ende geht die Party nicht. Mehr Konsum und die Stützprogramme von Regierungen werden Unternehmen überall auf der Welt weiterhin Gewinne in die Kassen spülen. Aber in den USA wie auch in der weltweit zweitgrössten Wirtschaftsmacht China scheint sich im Moment eine Normalisierung des Wachstums einzustellen. Bestätigt wird dieses Bild durch eine Abschwächung bei den Vorläuferindikatoren wie den Einkaufsmanagerindices. In China belasten zudem im Moment die Eingriffe des Staates das Vertrauen in den Aktienmarkt stark. Die zweite Jahreshälfte könnte einige "unangenehme Wochen" mit sich bringen und der Markt "holpriger" werden, schreibt Tilmann Galler, Marktstratege bei JPMorgan Asset Management, in einem Kommentar.
«Kein Zeitpunkt für zusätzliche Risiken»
Dominierendes Thema im zweiten Halbjahr bleibt auch das Preisniveau. Der letzte Aufreger in Sachen Inflation war die Teuerungsrate der USA im Juni: 5,4 Prozent. Die Meinung, dass die Inflation unterschätzt wird, gewinnt Boden. Auch der amerikanische Notenbank-Chef Jerome Powell hat vergangene Woche gesagt, die Inflation könnte hartnäckiger sein als von seiner Federal Reserve bisher angenommen oder zugegeben worden ist.
Eine rasche Zinserhöhung in den USA bleibt unwahrscheinlich. Das Gleichgewicht zwischen Inflation und Arbeitsmarkt werde für die Fed aber zunehmend zu einem Problem, hält Pascal Blanqué fest, Anlagechef der französischen Fondsgesellschaft Amundi. "Es ist daher nicht der richtige Zeitpunkt, um zusätzliche Risiken einzugehen". Bei Aktien rät Amundi einerseits, Rücksetzer in den Kurs für Zukäufe abzuwarten. Andererseits sehen die Analysten in Paris die Rotation zu Value-Aktien bestätigt.
Gefahr von Delta-Ausbreitung in China und Südostasien
Der "Reflation Trade", über dessen Beständigkeit seit Monaten kritisch debattiert wird, dürfte sich spürbar abschwächen. Anlegerinnen und Anleger müssen abwarten, wie sich die Wachstumseinschätzungen weiter entwickeln. Ein Signal, dass die Sorgen noch gestiegen sind, wäre ein deutlicherer Rückgang der aktuell 1,2 Prozent betragenden Rendite von Zehnjahres-Anleihen der USA.
Neben China müssen Japan und Südostasien im Blick gehalten werden. Dort breitet sich die Delta-Variante des Coronavirus aus. Weil die Weltregion bisher auf strikte Lockdowns gesetzt hat, ist der Impffortschritt in Asien-Pazifik schwach. Ein Drittel der Weltwirtschaft könnte betroffen sein.
"Rückschläge sind möglich", sagt Mirabaud-Aktienspezialist Burgener. Er empfiehlt, noch mehr auf Qualität und gute Bilanzen zu achten. Respektive, er rät auch zum Blick auf Unternehmen, deren Halbjahres- oder Quartalsberichte nicht so euphorisch ausgefallen sind: "Von allen Sektoren waren es vor allem die Schweizer Pharma-Unternehmen, die eher vorsichtig berichtet haben. Eine Erhöhung der Prognosen ist sicherlich nach dem dritten Quartal möglich."