cash.ch: Herr Brem, die Halbjahresabschlüsse stehen an. Welche Trends erwarten Sie bei Schweizer Unternehmen?

Omar Brem: Wir kommen aus einem guten ersten Halbjahr, was die Aktienentwicklungen betrifft. Positiv ist nun, dass die Lagerbestände im Markt gesunken sind, wodurch sich die Nachfrage wieder erhöhen sollte. Die Umsätze dürften aufgrund der höheren Volumina in den kommenden Quartalen wieder wachsen, sie sind nicht mehr vorwiegend preisgetrieben. Belasten könnte hingegen die anhaltend zurückhaltende Konsumentenstimmung und die weiterhin restriktive Geldpolitik. Davon dürften Firmen im Konsum- und Luxusgütersegment betroffen sein. Und was sicher bleibt, sind die geopolitischen Risiken. Deshalb ist der Ausblick für die nächsten Monate eher verhalten. Die Geschäftslage dürfte sich erst 2025 aufhellen.

Nestlé hat mit den Erstquartalszahlen enttäuscht, die Aktie des Lebensmittelkonzerns fällt indes schon seit Anfang 2022. Welche Anzeichen sehen Sie, dass es im zweiten Halbjahr besser wird?

Die Erstquartalszahlen waren ein Rückschlag. Doch die Volumen werden voraussichtlich zurückkehren dank neuer Produkte und mehr Marketingunterstützung. Wir gehen davon aus, dass Nestlé ab dem zweiten Quartal bei den Volumen wieder wachsen wird. Doch die Jahresguidance ist mit einem organischen Wachstum von zirka vier Prozent nach bloss 1,4 Prozent im ersten Quartal sehr ambitiös. Wir sind hier unverändert vorsichtiger und erwarten drei Prozent. Langfristig ist Nestlé gut aufgestellt dank einer führenden Marktstellung in den Bereichen Kaffee, Heimtiernahrung und Nutrition. Nestlé muss jedoch in den nächsten Quartalen bessere Zahlen abliefern, um das Vertrauen bei den Investoren zurückzugewinnen.

Was erwarten Sie von den anderen Schwergewichten, insbesondere von Roche und Novartis?

Beide Firmen sollten die Markterwartungen erfüllen können. Bei Novartis erwarten wir ein Umsatzwachstum von zehn Prozent in Lokalwährungen und beim Core-EBIT von 19 Prozent. Dies ist sicher sehr gut, sollte aber zum grossen Teil schon antizipiert sein. Roche hatte im ersten Quartal 2023 noch erhebliche Covid-Umsätze und daher nur zwei Prozent Wachstum im ersten Quartal 2024 ausgewiesen. Allerdings sollte das zweite Quartal 2024 eine Beschleunigung auf sechs bis sieben Prozent in Lokalwährungen zeigen. Bei Roche schliessen wir eine Anhebung der 2024er-Guidance nicht aus.

Also dürfte Roche nach wie vor weniger dynamisch unterwegs sein als Novartis.

Ja, aber das könnte sich im zweiten Halbjahr ändern – die Wachstumsraten beim Umsatz der beiden Unternehmen sollten sich ab 2025 angleichen. Roche-CEO Thomas Schinecker muss Kosten in Forschung und Entwicklung sowie Marketing senken und das Unternehmen effizienter machen. Dies sollte sich im zweiten Halbjahr erstmals in den Zahlen zeigen. Bei Novartis steht in den nächsten Jahren mehr Erosion durch Generika respektive Biosimilars als bei Roche an. Und Roche verfügt über die Diagnostics Division, die von Patenten weniger abhängig ist. Allerdings sind die Erwartungen an Roche stark heruntergekommen: Der Abschlag von Roche auf Stufe EV/EBITDA gegenüber dem globalen Pharmasektor beträgt 30 Prozent. Das ist wirklich signifikant.

Abgesehen von den Schwergewichten: Bei welchen Unternehmen rechnen Sie mit einem besonders positiven oder einem besonders negativen Abschneiden im ersten Halbjahr.

Die Aktien von Holcim und Givaudan liefen schon im ersten Halbjahr gut. Sie dürften ihren Lauf im zweiten Halbjahr fortsetzen. Givaudan ist eine Qualitätsfirma, die gut ausbalanciert ist. Sie hat hochwertige Produkte, ist aber auch bei den günstigeren Basiskonsumgütern bestens aufgestellt mit einem Offering im Bereich Private Label. Deshalb kann sich Givaudan auch bei tieferer Konsumentenstimmung gut halten. Das Risiko einer Wertkorrektur ist gering, obwohl die Aktie schon seit Monaten sehr gut läuft.

Und wie sehen Sie Holcim?

Die Geschäftszahlen erwarten wir weiterhin positiv. Wir nehmen an, dass Holcim weiter in sein Portfolio investiert und sich stärker als bisher auf Nischen wie dekarbonisierten Zement und Beton fokussiert. Das sind hochpreisige Premiumprodukte. Insofern dürften sich die Margen verbessern und der Free Cash-Flow wiederum auf über drei Milliarden Franken im laufenden Jahr belaufen. Die Aktionäre dürften auch in Zukunft von steigenden Dividenden und Aktienrückkäufen profitieren.

Im ersten Semester waren die Aktien ABB und Lonza überaus stark - das Plus betrug mehr als 30 Prozent. Sind diese Titel ausgereizt?

Die Aktie von ABB könnte sich seitwärts bewegen. Die Aktionäre wollen nun zunächst sehen, wohin der ab August neu antretende CEO das Unternehmen führt. Die entscheidende Frage wird sein, inwieweit er das Vertrauen der Aktionäre gewinnt. Hinzu kommt, dass eine weitere Kurssteigerung eine spürbare Erholung des noch zurückhinkenden Robotics & Discrete-Automation-Bereiches erfordern würde.

Und Lonza?

Auch bei Lonza kommt es auf den neuen CEO Wolfgang Wienand an. Unserer Meinung nach hat er einen guten Leistungsausweis von Siegfried. Nach dem Wegfall des Moderna-Wirkstoffs wird das Unternehmen versuchen die neugeschaffenen Kapazitäten mit profitablen Produkten auszulasten. Wir erwarten allerdings eine leichte Margenabschwächung im Ersthalbjahr 2024 wegen des Wegfalls von Moderna, was aber im Konsensus schon abgebildet ist. Weitere good news bezogen auf den Biosecurity Act in den USA können den Kurs wieder anheben nach der kürzlichen Korrektur von den Höchstkursen.

Kühne+Nagel sowie Sika befinden sich seit längerem in einer Seitwärtsbewegung und deutlich unter dem Hoch, das sie Ende 2021/Anfang 2022 erreicht hatten. Welche Anzeichen für eine Kursverlaufsänderung nach oben oder nach unten gibt es?

Bei Sika sind wir eher vorsichtig für das laufende Jahr, was die organische Umsatzentwicklung betrifft. Wir glauben, dass die Integration der übernommenen MBCC Group noch länger dauert, als man dies erwartet hatte. Danach aber sollte Sika gut positioniert sein. Die Aktie von Kühne+Nagel ist momentan aufgrund der geopolitischen Lage und heftigen Preisverschiebungen in der Seefracht volatil. Das Management hat sehr ambitionierte Ziele bis 2026 definiert, welche der Markt noch nicht glaubt.

Verfolgt das Unternehmen die richtige Strategie?

Die Fokussierung auf Nischen ist ein guter Weg. Man wird nicht mehr breiter, sondern will auf die Preissetzung achten. Klar ist, dass die Geschäftsleitung sich ehrgeizige Ziele gesetzt hat. Ob die Investoren an das Erreichen dieser Ziele glauben, ist eine andere Frage. Wir sind diesbezüglich positiv gestimmt. Das Volumenwachstum dürfte anziehen - eine spannende Aktie für das zweite Halbjahr.

Der Schweizer Franken hat sich im zweiten Quartal zum Euro und zum Dollar wieder etwas aufgewertet - nach einer Abwertung seit Jahresbeginn. Inwiefern werden die Halbjahresabschlüsse davon betroffen sein?

Die Aufwertung im zweiten Quartal wird einen gewissen negativen Effekt haben. Doch bezogen auf das erste Halbjahr hat sich der Franken abgewertet. Davon könnten die Unternehmen profitieren. Doch ein weiterhin schwacher Franken ist Wunschdenken, da die geopolitischen Unsicherheiten eher für die Schweizer Währung sprechen. Ausserdem wird der Effekt einer weiteren Zinssenkung durch die Schweizerische Nationalbank verpuffen, sobald die Europäische Zentralbank nächste Zinssenkungen vornimmt. Deshalb glaube ich nicht, dass die Firmen von einem langfristig schwächeren Franken ausgehen können.

Die Schweizerische Nationalbank und die Europäische Zentralbank haben die Zinsen bereits gesenkt. Wann wird die amerikanische Notenbank einen Zinsschritt unternehmen?

Das Wording der amerikanischen Notenbank ist natürlich entscheidend und wir gehen von einer Zinssenkung im September 2024 aus. Sollte die Zinsen tatsächlich fallen, sinken die Refinanzierungskosten der Firmen. Das ist positiv - zum Beispiel für die Partners Group. Sie wird von einer Belebung der Deal-Aktivität durch tiefere Zinsen profitieren. Deswegen halten wir dieses Unternehmen im Augenblick und in den nächsten Quartalen für sehr spannend.

Im Herbst sind die Wahlen in den USA. Rechnen Sie überhaupt mit einem Einfluss auf den Schweizer Aktienmarkt?

Es wäre vermessen, zum jetzigen Zeitpunkt grössere Investitionsentscheidungen wegen der Präsidentschaftswahlen zu treffen. So, wie es aussieht, werden die Amerikaner ja nicht die Qual der Wahl, sondern die Wahl des kleineren Übels haben. Ob Donald Trump mit seiner unbeholfenen, oft konfrontativen Haltung Schaden verursacht oder ob Joe Biden durch einen anderen Demokraten ersetzt wird, wird sich erst noch weisen. Auf das eine oder andere zu spekulieren, lohnt sich aus unserer Sicht nicht wirklich.

Der SMI hat im ersten Halbjahr rund acht Prozent zulegt. Geht es in diesem Tempo weiter?

Es kann gut sein, dass es in den nächsten Monaten eine Seitwärtsbewegung gibt. Wir schliessen auch nicht aus, dass die eine oder andere Aktie noch ein Stück weit korrigiert. Die bessere Konjunktur könnte dem Aktienmarkt ab 2025 wiederum positiv Impulse geben.

Omar Brem leitet seit September 2020 das Research der Zürcher Kantonalbank. Zuvor war er als Investment Manager bei Pictet tätig. Brem hat Banking & Finance an der Universität Zürich und am Imperial College in London studiert, 2014 schloss er mit einem Master-Titel ab.