Es ist eine altbekannte Geschichte. Eine neue Kraft betritt den Markt - quantitative Lockerung, gehebelte ETFs, Hochfrequenzhandel - und die Wall Street überschlägt sich bei der Aufdeckung der Risiken, die sie für die Anleger angeblich birgt.

Eine neue Welle der Entrüstung ist von einer Art von hochoktanigen Aktienoptionen losgetreten worden, die das Herz mancher Investoren erobert hat. Papiere vom Typ Zero-Day-to-Expiration (0DTE) ermöglichen Anlegern, Wetten mit einer Haltbarkeit von weniger als 24 Stunden zu kaufen und zu verkaufen. Amateurspürnasen auf Reddit ebenso wie hochbezahlte Charttechniker an der Wall Street debattieren über die Gefahr, die von diesen Instrumenten ausgeht.

Stratege Marko Kolanović von JPMorgan Chase & Co. warnt vor einem "Volmageddon 2.0", sollten die Kontrakte überkochen. Die "Volmageddon"-Episode vom Februar 2018 ist einer der bekannteren Fälle, in denen die Dynamik an den Derivatemärkten auf ihre Basiswerte, in diesem Fall Aktien, übergriff. Die Hauptschuldigen waren börsengehandelte Fonds, die den Anlegern den Kehrwert der Aktienvolatilität zahlen sollten. 

Die jüngste Verbreitung von Optionen mit einer Laufzeit von null Tagen hat ein ähnliches Potenzial, den Markt in Schräglage zu versetzen, so Kolanović. Nach Schätzungen seines Teams beläuft sich das tägliche Nominalvolumen solcher kurzfristigen Optionen auf rund 1 Billion Dollar. 

Teenager fragen nach den Wertpapieren

Abseits der Wall Street gibt es einen Twitter-Account, der nichts anderes tut, als täglich Vorhersagen darüber zu veröffentlichen, wohin sich der breitere Aktienmarkt dank der steigenden Schlagkraft der Optionen jeden Tag entwickeln wird. Ein Fondsmanager berichtet, Teenager hätten angefangen, ihn nach den Papieren zu fragen — was bedenklich sei.

Die enormen Volumina des Optionsmarktes, die kurzen Laufzeiten dieser Geschäfte und die Ungewissheit darüber, wer sie nutzt, machen die Analyse des Risikoprofils der 0DTE schwer. Einige sind der Meinung, dass die Derivate die Marktvolatilität verringern. Andere sehen in ihnen eine Quelle extremer Turbulenzen, die zu einem “nicht handelbaren Chaos” am Aktienmarkt  beigetragen haben.

"Wenn es zu grossen Umwälzungen wie dieser kommt, sagen die Leute immer: ‘Ihr müsst aufpassen, weil ihr ein grosses Problem verursacht’”, sagte Malcolm Polley, President und Chief Investment Officer bei Stewart Capital Advisors. "Ich glaube nicht, dass sie wirklich vollen Einblick haben, denn dieses Phänomen gab es zuvor nicht."

Billige Möglichkeit des Glücksspiels

2021 hatten Kleinanleger Zero-Day-Optionen während des Meme-Stock-Booms als billige Möglichkeit des Glücksspiels für sich entdeckt. Neuen Auftrieb erhielten sie später im Indexhandel, nachdem Börsenbetreiber wie Cboe Global Markets im vergangenen Jahr die Verfallstermine von S&P 500-Optionen so ausdehnten, dass sie an jedem Wochentag möglich wurden.

Unter institutionellen Anlegern wurden die Papiere auf Anhieb zu einem Hit, da die aggressive Straffung der US-Geldpolitik regelmässig dafür sorgte, dass die Märkte inmitten der Sitzung drehten.

Im dritten Quartal 2022 machten 0DTE-Kontrakte mehr als 40 Prozent des gesamten Optionsvolumens des S&P 500 aus, wie Daten der Goldman Sachs zeigen. Im Vergleich zu den sechs Monaten zuvor hat sich der Anteil damit fast verdoppelt.

Hinter dem Boom dürften laut JPMorgan Hochfrequenzhändler stecken, die an praktisch jedem Knotenpunkt der modernen Aktienlandschaft präsent sind — als Market Maker und Investoren, die in Tausendstelsekunden währenden Transaktionen ihren Vorteil suchen. Zero-Day-Optionen bieten Anlegern in diesem schnelllebigen Universum einen Weg zum Ausgleich ihres Risikos und zur Verfeinerung von Strategien, die darauf abzielen, mit dem rasend schnellen Ein- und Ausstieg aus Wertpapieren Gewinne zu erzielen.

(Bloomberg)