Der Dichter Archilochus schrieb bereits im 7. Jahrhundert vor Chirstus: «Der Fuchs weiss viele Dinge, aber der Igel weiss ein grosses Ding». Die globalen Anleihemärkte sind meist wie der Igel: Sie konzentrieren sich auf «die eine grosse Sache». Seit 2022 ist diese grosse Sache die durch COVID-19 ausgelöste Inflation und die Bemühungen der G-20-Zentralbanken, sie zu bremsen. Die Zinserhöhungen haben ihren Zweck erfüllt - die Inflation nimmt nahezu überall ab und der globale Zinszyklus entspannt sich - ausser in Japan.
Aber es gibt eine Kehrseite der Medaille: Die fiskalische Herausforderungen haben die G-20-Regierungen in eine schlechtere Lage als vor COVID gebracht, und politische Veränderungen sind absehbar. In vielen Ländern könnte die Fiskalpolitik zur neuen Herausforderung für die Bewertung festverzinslicher Wertpapiere werden. Und schlussendlich trifft das, was an den Anleihenmärkten passiert, auch den Aktienmarkt und die Realwirtschaft.
Defizite spielen oft keine Rolle - bis sie es plötzlich tun. Nach der globalen Finanzkrise und vor COVID-19 wurden Schulden und Defizite bei nahezu null oder negativen Zinssätzen meist ignoriert - mit Ausnahme der Eurokrise. Das hat sich geändert: Schulden haben wieder einen realen Preis. In allen entwickelten Volkswirtschaften deuten steigende strukturelle und konjunkturelle Verschuldung auf eine Zukunft mit langsamerem Wachstum, höheren Steuern und volatileren Zinskurven hin. Ein enger Fokus auf Zinssenkungen der Zentralbanken könnte daher für die Bewertung von Wertpapieren mit längeren Laufzeiten unzureichend - und wohl irreführend - sein.
Seit den 1970er Jahren lautet die Devise: Mehr Schulden
Die Staatsverschuldung im Verhältnis zum BIP zeigt in den grossen Industrieländern seit den 1970er Jahren einen stetigen Aufwärtstrend, besonders in Japan, Frankreich, Italien, Grossbritannien und den USA. «Seit den 2000er Jahren stechen die USA hervor, deren Staatsverschuldung inzwischen gut 120 Prozent des BIP erreicht hat und sich damit nahe einem Rekordstand befindet», sagt Daniel Hartmann, Chefökonom der Bantleon, gegenüber cash.ch. Auch in den Schwellenländern ist die Lage teils kritisch. Der IWF weist in seinem Fiskal Monitor vom April 2024 darauf hin, dass in China eine besorgniserregende Entwicklung bevorsteht: Die Schuldenstandsquote (Staatsverschuldung/BIP) könnte in den nächsten Jahren 150 Prozent des BIP erreichen.
«Als älterer Mensch höre ich oft, dass junge Leute genervt sind, wenn man ihnen sagt, die Schulden seien zu hoch. Auch schon Historiker wie Neil Ferguson haben nach der Finanzkrise desillusionierende Prognosen gemacht, doch 20 Jahre später scheint die Lage kaum verändert», sagt David Rolley, Co-Head of Global Fixed Income bei Loomis Sayles gegenüber cash.ch. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass die USA und das Vereinigte Königreich jetzt Mitglieder des «100 Prozent-Clubs» sind. Das bedeutet, deren Staatsverschuldung liegt über dem BIP. Somit beträgt die Staatsverschuldung der USA im Verhältnis zum BIP etwa 100 Prozent, wobei diese Zahl je nach Betrachtungsweise variiert.
Die Gründe für den steigenden Trend der Staatsverschuldung sind teilweise demografisch bedingt. Aufgrund der alternden Gesellschaften steigen die Ausgaben für staatliche Renten- und Krankenversicherungen überproportional. Darüber hinaus mangelt es oft am politischen Willen, ausgeglichene Staatshaushalte zu verabschieden. Insbesondere in den USA hat in den letzten 25 Jahren das Vertrauen zugenommen, jede Art von Konjunkturkrise durch expansive Fiskalpolitik zu bewältigen. Ein jüngstes Beispiel sind die Corona-Konjunkturpakete, die ein Volumen von über 5 Billionen Dollar (mehr als 20 Prozent des US-BIP) umfassten und die Schuldenquote dort massiv erhöhten.
Die Schuldenbremse ist selbst in der Schweiz unter Druck: Die Delegierten der SP Schweiz forderten an ihrem Parteitag in Davos vor kurzem die langfristige Abschaffung. Auch in Deutschland wird diese zunehmend kritisch gesehen. In Ländern wie Italien wird sie regelmässig ausgehebelt. So ist in unserem südlichen Nachbarland eine höhere Neuverschuldung bei «aussergewöhnlichen Ereignissen» erlaubt, wenn das Parlament mit absoluter Mehrheit zustimmt.
Kurzfristig ist keine Kehrtwende in der Haushaltspolitik der meisten Industrie- und Schwellenländer zu erwarten, was bedeutet, dass auch in wirtschaftlich guten Zeiten weiterhin hohe Budgetdefizite verzeichnet werden. Das überparteiliche Congressional Budget Office (CBO) der USA schätzt beispielsweise, dass die Schuldenstandsquote der Vereinigten Staaten in den nächsten Jahren Richtung 170 Prozent des BIP steuern wird.
Zinslastquote zentral
Hohe Schuldenstandsquoten sind unproblematisch, wenn die Renditen von Staatsanleihen niedrig sind, wie es in Japan in den letzten 20 Jahren der Fall war. Trotz steigender Staatsschuldenquoten sind die Zinsen in Japan gesunken (teilweise unter null), sodass die Zinslastquote (Zinsausgaben im Verhältnis zu Staatseinnahmen) nicht gestiegen ist. Diese Entwicklung wird sich jedoch voraussichtlich nicht fortsetzen. Die durchschnittlichen Staatsanleihenrenditen der G7-Staaten sind bereits von einem Tiefpunkt von 0,2 Prozent im Jahr 2020 auf über 3,0 Prozent gestiegen.
Der Markt ist bezüglich der USA gemäss Rolley noch unentschlossen. Die US-Defizite liegen derzeit bei 6-7 Prozent des BIP, wobei etwa die Hälfte auf Zinszahlungen für den Schuldendienst entfällt. Dies ist neu für die USA, da die Zinssätze nach der globalen Finanzkrise lange Zeit sehr niedrig waren. «Mit derzeit positiven, auch inflationsbereinigten Renditen, sind wir in einer anderen Welt als in den 15 Jahren vor der Pandemie, eher vergleichbar mit den 1990er Jahren. Anleger könnten sich Sorgen machen, ob wir in eine Phase wie die 1970er Jahre mit Inflationsüberraschungen treten.»
Rolley macht sich keine Sorgen über die Zahlungsunfähigkeit der USA. Langfristig gilt: Wenn Steuern nicht ausreichen, wird Inflation zur unfreiwilligen Steuer. Wenn Ausgaben und Defizit nicht mit der Kapazität des Anleihemarktes zur Finanzierung im Einklang stehen, droht ein Inflationsproblem. Die Frage bleibt, wie hoch die organische Kapazität der Anleihemärkte ist, um das US-Defizit zu absorbieren. Aktuell ist das Verhältnis von Schulden zu BIP instabil und steigend.
So oder so: In den nächsten Jahren ist mit weiter steigenden Renditen zu rechnen, da Inflationsschübe die Zentralbanken zu einer restriktiven Geldpolitik zwingen werden. «Die Zinslastquoten vieler Länder werden daher zunehmen. In den USA liegt sie bereits heute bei über 10 Prozent und könnte in den nächsten Jahren auf 20 Prozent steigen», warnt Hartmann.
Anlegerprotest als Szenario
Spätestens bei Zinslastquoten von über 20 Prozent wird der Spielraum im Staatshaushalt laut dem Chefökonomen der Bantleon, Daniel Hartmann, sehr eng. Irgendwann könnten Investoren Zweifel daran hegen, ob die Staaten noch in der Lage sind, ihre Schulden zurückzuzahlen. Rating-Agenturen könnten beginnen, die Bonitätsnoten zu senken. Anleger würden daraufhin höhere Risikoprämien fordern, was eine Abwärtsspirale in Gang setzen könnte, die einen Staatsbankrott (Default) immer wahrscheinlicher macht.
Die weltweite Nachfrage nach US-Papieren hängt davon ab, ob Anleger sie kaufen wollen. Ein Schock könnte den Appetit der Anleger verändern, ein Faktor, der oft als «Bond Vigilantes» bezeichnet wird. Überraschungen können jedoch nicht vorhergesagt werden. Politiker werden laut Rolley wahrscheinlich nur dann Massnahmen zur Stabilisierung des Defizits ergreifen, wenn sie dazu gezwungen sind, was Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen, insbesondere bei grossen Ausgaben, erfordert.
Das bedeutet schmerzhafte Massnahmen bei Transferzahlungen, Sozialversicherung sowie Medicare und Medicaid. Keiner will das. Ebenso wenig wie Steuererhöhungen. «Die Frage ist, wann die Politiker bereit sein werden, den Wählern diese Schmerzen zuzumuten», meint Rolley. Wahrscheinlich erst, wenn die Alternative noch schlimmer wäre. Ein Szenario könnte ein Anlegerprotest sein: Zinsanstiege, höhere Renditen und Verluste bei langlaufenden Anleihen sowie Aktienmarktcrashs. Wenn viele Amerikaner auf ihre 401k-Pläne schauen und feststellen, dass ihre Aktien wegen Schuldenproblemen um 20 Prozent gefallen sind, würden die Politiker wahrscheinlich handeln.
«Ich erwarte keine strukturellen Fortschritte ohne eine marktweite Panik, die gross genug ist, um die Politiker zum Handeln zu zwingen. Vorausschauende Massnahmen? Nein, die erwarte ich nicht», so das Fazit des Experten von Loomis Sayles.
«Es gibt zwei Lösungswege: Erstens, die Politik reisst im letzten Moment das Ruder herum und drückt auf die Ausgabenbremse. Die Folge wäre eine schwere Rezession, die vermutlich mehrere Jahre anhält. Hierzu bedarf es mutiger Politiker wie beispielsweise Margaret Thatcher oder Paul Volcker (als Notenbanker) in der Vergangenheit. Oder der IWF erzwingt ein Sparprogramm», so Hartmann.
Zweitens, die Politik lässt das System gegen die Wand fahren, was nur noch einen Schuldenschnitt mit einer daraus resultierenden Währungsreform anbietet, ähnlich wie das Deutsche Reich 1923 erlebte, meint Hartmann. In diesem Fall käme es kurzfristig zu einem Chaos mit einer anschliessenden Weltwirtschaftskrise, insbesondere wenn der Default ein grosses Land betrifft.
Auch Deutschland oder China vor Herausforderungen
Was man nicht vergessen darf: Die USA ist mit dem Problem nicht allein. Auch Deutschland steht vor erheblichen Herausforderungen. Während die Zahlungsfähigkeit kein Problem darstellt, stagniert das Wirtschaftswachstum seit zwei Jahren. «Die Ära der Selbstzufriedenheit, in der man sich keine Sorgen um Aussenpolitik und Verteidigung machen musste, ist vorbei. Die geostrategische Bedrohung durch Russland erfordert eine Aufrüstung, die seit 1990 nicht mehr nötig war und sehr kostspielig sein wird. Wichtige Teile der deutschen Wählerschaft leugnen dies noch, aber es wird eine erhebliche fiskalische Belastung darstellen», so Rolley.
Zusätzlich belasten die Rohstoffabhängigkeiten, insbesondere im Bereich der fossilen Brennstoffe, die deutsche Wirtschaft. Der Ersatz von russischem Pipelinegas durch LNG wird teuer, und die Energiewende im Automobilsektor steht vor grossen Herausforderungen. Chinesische Elektrofahrzeuge sind viel günstiger als die deutschen Produkte. Diese industrielle, geostrategische und ressourcenbezogene Herausforderung wird wahrscheinlich höhere Steuern oder ein grösseres Defizit erfordern.
Auch andere europäische Länder wie Italien und Frankreich, die ebenfalls hohe Schuldenquoten haben, werden schwierige Entscheidungen treffen müssen. Politik ist oft die Kunst des Möglichen, manchmal jedoch auch die Kunst des Schmerzhaften. Diese Herausforderungen werden Europa in den nächsten fünf bis sechs Jahren stark beeinflussen, ist Rolley von Loomis Sayles überzeugt.
China, ein Einparteienstaat, steht vor grossen Herausforderungen. Das ehemals erfolgreiche Wachstumsmodell, das auf hohen Investitionen und relativ niedrigem Konsum beruhte, funktioniert nicht mehr. Da China bis zu 20 Prozent seines BIP in den Wohnungsbau investiert hat, muss es nun entweder langsamer wachsen oder andere Nachfragequellen finden. «Vor einem Monat sahen wir eine Reihe von politischen Initiativen, hauptsächlich monetärer Natur. Diese Massnahmen beinhalteten im Wesentlichen den Austausch von Verbindlichkeiten der Zentralregierung gegen die der lokalen Regierungen, um sicherzustellen, dass diese weiterhin ihre Angestellten bezahlen können», sagt Rolley. Dies ist notwendig, da ein Teil der öffentlichen Finanzen auf lokaler Ebene bisher durch Grundstücksverkäufe an Bauträger finanziert wurde, was nun entfällt.
China durchlebt derzeit eine Krise der öffentlichen Finanzen und steht gleichzeitig vor Wachstumsherausforderungen. Der bevorzugte Plan besteht darin, den Ausweg aus der Krise durch Exporte grüner Energie und Elektrofahrzeuge zu suchen, wo sie bereits einen dominierenden Marktanteil haben. Allerdings reicht dies im Vergleich zu den früheren Immobilieninvestitionen nicht aus. Es gibt weltweit eine natürliche Grenze der Absorptionsbereitschaft für chinesische Importe, was zu Konflikten mit den USA und Europa führt. Indien plant zudem, eine parallele Industrie aufzubauen, was die Situation weiter verschärfen könnte. Darüber hinaus ist eine direkte Verbrauchsförderung durch Transferzahlungen nicht Teil der chinesischen Strategie. Zwar könnte dies ausreichen, um zumindest den Aktienmarkt zu stabilisieren und das 5 Prozent-Wachstumsziel für dieses Jahr zu erreichen, jedoch gibt es keine strukturelle Lösung, um die fehlenden Investitionsausgaben zu ersetzen.
«Anleger müssen sich mit dem Thema Staatsverschuldung auseinandersetzen. Die expansive Geld- und Fiskalpolitik hat in den vergangenen Jahren eine Schönwetter-Situation an den Finanzmärkten erzeugt, die aber irgendwann zu Ende geht», ist Hartmann überzeugt. Es könnte beispielsweise passieren, dass US-Treasuries ihre Rolle als sicherer Hafen der Finanzmärkte verlieren. Aktien wären in diesen Szenarien auch keine wirkliche Alternative, da die Weltwirtschaft bei stark restriktiver Fiskalpolitik oder gar Staatsbankrotten in eine lange Rezession abtauchen würde, was die Bewertungen an den globalen Aktienmärkten langfristig belasten würde.
Investoren bleibt daher laut dem Bantleon-Chefökonomen nichts anderes übrig, als sich mit neuen Assetklassen wie Gold, Kryptowährungen und Rohstoffen auseinanderzusetzen. Unter Umständen könnten auch Staatsanleihen bestimmter Länder wie Schweiz, Schweden, Norwegen, Kanada oder Australien weiterhin als sichere Häfen dienen. Dies muss jedoch genau beobachtet werden. Zudem könnten einige Schwellenländer eine alternative Anlagemöglichkeit bieten. Geografisch muss der Blick daher ebenfalls geweitet werden.