cash.ch: Von Enron bis Wirecard: Bilanzbetrug macht Schlagzeilen. Wie weit verbreitet ist Wirtschaftskriminalität bei börsennotierten Unternehmen?
Susanne Grau: Fälle wie Enron oder Wirecard sind besonders bedeutend und ziehen viel Aufmerksamkeit auf sich, da sie grossen Schaden verursachen und starkes Interesse wecken. Diese Fälle deuten jedoch nicht auf eine weitverbreitete, sondern auf eine regelmässig auftretende Problematik hin, die jeweils wieder zu rechtlichen Anpassungen führt. Wirtschaftskriminalität tritt immer wieder auf, sowohl bei grossen als auch bei kleinen Unternehmen. Dabei spielen bei der Aufdeckung die Mitarbeitenden mit Hinweisen, aber auch Fachpersonen, Journalisten, Aufsichtsbehörden und Revisionsstellen eine wichtige Rolle. Neben Bilanzbetrug und Fälschungen gibt es weitere Formen der Wirtschaftskriminalität, wie Korruption und vermögensschädigende Handlungen in verschiedenen Ausprägungen. Da bei börsennotierten Unternehmen oftmals auch viele Kleinanleger involviert sind, ist vermutlich die Beachtung von 'Skandalen' dort eine besondere.
Sie haben die Stetigkeit angesprochen. Wie erklären Sie sich das?
In den 1940er Jahren definierte Edwin Sutherland erstmals die sogenannte 'White-Collar Crime'. Wirtschaftskriminalität ist ein langjähriges Phänomen, das sich kontinuierlich weiterentwickelt. Mit der Digitalisierung entstehen ständig neue Möglichkeiten und Methoden für kriminelle Aktivitäten. Solange es wirtschaftliche Anreize gibt, wird es auch immer Personen geben, die versuchen, daraus einen Eigennutzen zu ziehen.
Neue Zeiten, neue Möglichkeiten…
Ein bekanntes Konzept bei der Beurteilung wirtschaftskrimineller Handlungen ist das 'Fraud Triangle', bestehend aus Motiv, Gelegenheit und Rechtfertigung. Diese drei Faktoren sind stets präsent und führen zu Wirtschaftskriminalität. Solange menschliches Verhalten eine Rolle spielt, wird uns dieses Thema begleiten. Es wird nicht kontinuierlich mehr oder weniger Fälle geben, sondern eher Schwankungen. Viele Fälle kommen nicht zur Anzeige und bleiben in der Dunkelziffer verborgen, was die Wahrnehmung der Häufigkeit beeinflussen kann.
Es existiert ein Graubereich bei der Wirtschaftskriminalität. Viele Handlungen bewegen sich an der Grenze des Erlaubten. Wo liegen diese?
Wirtschaftskriminalität umfasst oft Verhaltensweisen, die von ethischen und moralischen Normen abweichen. Diese Grauzone ist schwer zu definieren, da die Meinungen darüber stark variieren. Klarheit besteht erst, wenn ein Verhalten strafrechtlich geahndet wird, was von der jeweiligen Jurisdiktion abhängt – sei es in der Schweiz oder international. Nur dann kann eine bestimmte Verhaltensweise eindeutig als strafbar eingestuft werden.
Gibt es typische Warnsignale für Bilanzbetrug?
Es wäre ideal, wenn es klare 'Red Flags' gäbe.
Wo kann man trotzdem ansetzen?
Warnsignale kann man oft bereits im Handelsregister erkennen: häufige Sitzwechsel, Zweckänderungen, Namenswechsel sowie häufige Wechsel der Revisionsstelle oder des Verwaltungsrats erfordern genauere Überprüfung. Bei der Analyse der Bilanz und Erfolgsrechnung sollten plötzliche starke Umsatzzunahmen hinterfragt werden. Diese Abweichungen müssen stets plausibel erklärt werden. Es bedarf Fachwissens und Branchenkenntnis, um unplausible Gewinnsprünge oder Umsatzsteigerungen zu erkennen.
Bilanzoptimierung ist bei hoher Verschuldung ein gehäuftes Thema. Wie kann man dieses Phänomen einordnen und verständlich machen?
Bilanzoptimierung bedeutet nicht zwangsläufig Bilanzbetrug. In Krisensituationen neigen Firmen dazu, ihre Zahlen besser darzustellen. Dies liegt oft in der Natur der Sache und ist nicht zwangsläufig kriminell motiviert. Unternehmen versuchen zunächst, legale Möglichkeiten auszuschöpfen, wie etwa die Aufwertung von Immobilien zur Beseitigung einer Überschuldung, was gesetzlich erlaubt ist.
Wie weit geht diese Praxis?
Es gibt hier Ermessensspielräume, zum Beispiel bei der Bewertung von Kundenforderungen. Firmen können annehmen, dass alle Kunden zahlen werden, solange dies vertretbar ist. Der kritische Punkt beginnt jedoch, wenn fiktive Buchungen vorgenommen werden, etwa um kurzfristig eine Überschuldung zu kaschieren. Die Verbuchung fiktiver Einnahmen, die im Folgejahr wieder herausgebucht werden, ist strafbar.
Sollte man legale Bilanzoptimierungen im Hinterkopf behalten, wenn man sich mit einem Unternehmen beschäftigt?
Unbedingt. Wenn man sich entscheidet, in ein Unternehmen zu investieren, ist es ratsam, die Bilanzen und Erfolgsrechnungen der letzten zwei bis drei Jahre genau zu analysieren. Dabei sollte man Plausibilitätsfragen stellen, da Prognosen oft optimistischer ausfallen, insbesondere wenn ein Unternehmen verkauft werden soll. Auch ein Blick in die Testate der Revisionsstelle kann hilfreich sein, auch wenn sich dort wohl nur in seltenen Fällen kritische Hinweise finden lassen dürften.
Was muss man beachten?
Es ist wichtig (aber nicht in jedem Fall zweifelsfrei möglich), zwischen zulässiger Optimierung/Kosmetik und strafbarer Fälschung zu unterscheiden. CEOs dürfen ihre Technologie subjektiv positiv darstellen, solange dies auf realen Gegebenheiten basiert. Problematisch wird es, wenn Projekte oder Technologien nur vorgetäuscht und in den Bilanzen als real dargestellt werden. Diese „Bilanzlüge“ kann strafbar sein. Letztlich hilft es, sich ausreichendes Wissen anzueignen, um die Aussagen von Geschäftsführern kritisch bewerten zu können.
Inwiefern ist Bilanzkosmetik oder Bilanzbetrug eine Frage der Unternehmenskultur?
Das ist definitiv ein Governance- und Ethik-Thema – und ein Thema der Verantwortung. Wenn die wirtschaftliche Lage des Unternehmens klarerweise zu gut dargestellt wird, um beispielsweise bei der Bank einen Kredit zu erhalten, droht eine Verurteilung wegen Betrugs. Aber auch für nicht entschuldbare Handlungen wie beispielsweise schädigende Interessenkonflikte spielt die Unternehmenskultur eine grosse Rolle. Eine sogenannte 'Selbstbedienungskultur' im Management kann dazu führen, dass sich auch Mitarbeiter ihren Anteil am Unternehmen nehmen, sei es durch Veruntreuung oder andere kriminelle Handlungen. Auch Vergütungsanreize können einen Einfluss haben. Unternehmen müssen sich der Risiken bewusst sein und ihre Verwaltungsräte tragen eine grosse Verantwortung, eine solche Kultur zu verhindern.
Welcher Artikel deckt den Strafbestand der Bilanzfälschung ab?
Bei der Bilanzfälschung wird in der Schweiz nach Artikel 251 StGB vorgegangen, der dies als Urkundenfälschung behandelt. Im Gegensatz zu Deutschland, das spezifische Straftatbestände im Handelsgesetzbuch hat, fehlt in der Schweiz eine explizite Strafnorm für Bilanzfälschung. Dies macht die Anwendung kompliziert.
Ist die Anwendung des Gesetzes wegen der indirekten Argumentationsweise kompliziert?
Ja, weil der Straftatbestand der Urkundenfälschung keinen spezifischen Bezug zu Bilanzen aufweist. Es geht darum, dass man eine echte Urkunde erstellt und über deren Inhalt lügt. Man muss dann eine falsche Darstellung der Vermögens- und Ertragslage nachweisen. Es gibt keine klaren Leitlinien, wann dies strafbar ist, was die Rechtsanwendung erschwert und von Urteil zu Urteil variiert. In der Untersuchungspraxis ist es so, dass in Buchführung und Rechnungslegung ungeübte Strafrechtsspezialisten auf im Strafrecht ungeübte Rechnungslegungsspezialisten treffen.
Braucht es eine bessere gesetzliche Grundlage?
Eine klarere Strafrechtsnorm wäre hilfreich. Dadurch könnten wir die Rechtsanwendung weiterentwickeln sowie die Sensibilisierung schärfen. Auch wenn dies kurzzeitig zu mehr Fällen führen würde, wäre eine klare Norm langfristig vorteilhaft.
Wie sieht es mit Aktionärsschädigung aus?
Artikel 158 des Schweizer Strafgesetzbuches deckt ungetreue Geschäftsführung ab, oft betreffend C-Level-Management und Verwaltungsrat. Während schlechtes Wirtschaften nicht strafbar ist, können auf Pflichtverletzungen basierende, massive Fehlentscheidungen zu Vermögensschäden führen, die strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.
Wie sieht es mit Korruption aus? Die Schweiz schneidet im internationalen Vergleich gut ab.
Die Schweiz hat klare Straftatbestände für Korruption, einschliesslich Privatbestechung. Diese rechtlichen Regelungen sind gut umgesetzt, jedoch gibt es in der Praxis wenige Fälle. Das liegt daran, dass Korruption grundsätzlich ein opferloses Delikt ist und selten zur Anzeige gebracht wird. Für die Prävention ist es wichtig, Interessenbindungen und Interessenkonflikte transparent offenzulegen. Die enge Vernetzung in der Schweiz, wo sich viele Akteure gut kennen, macht diese Transparenz noch bedeutsamer.
Ist Korruption ein dauerhaftes Problem?
Ja, Korruption ist ein dauerhaftes Problem. Sie hat es schon immer gegeben und wird wahrscheinlich nicht vollständig verschwinden. Früher konnte man Bestechungsgelder sogar von der Steuer absetzen – das hat sich geändert, da man inzwischen die schädlichen Auswirkungen erkannt hat.
Sind die Aufsichts- und Verfolgungsbehörden in der Schweiz gut aufgestellt?
Ich denke, die schweizerischen Aufsichtsbehörden sind gut ausgestattet und fachlich kompetent. Es kann jedoch einzelne Fälle geben, in denen die Ressourcen knapp sind. Und es besteht noch Schulungsbedarf im Umgang mit wirtschaftskriminellen Verhaltensweisen. Die Revisionsaufsichtsbehörde hat dies beispielsweise erkannt und will dem künftig mehr Augenmerk schenken. Zu begrüssen ist, dass heute Fälle auch anonym (Whistleblowing) gemeldet werden können.
Gibt es einen Fall, der Sie besonders überrascht hat in der Kreativität der Täter?
Mich überrascht eigentlich nichts mehr, aber der Fall Wirecard hat mich doch erstaunt. Es ist bemerkenswert, dass ein Viertel der Bilanzsumme einfach fehlte, und zwar liquide Mittel, die grundsätzlich einfach zu prüfen sind. Trotz guter Regelungen und Kontrollen in der Schweiz zeigt dieser Fall, dass wir immer wachsam bleiben müssen. Selbst bei börsennotierten Unternehmen kann es zu solchen Vorfällen kommen. Wirecard ist eine Erinnerung daran, dass keine Aufsicht oder Kontrolle absolut zuverlässig ist. Bei Wirtschaftskriminalität sind wir im Nachhinein oft klüger, aber man darf nicht denken, dass immer alles offensichtlich ist.
Susanne Grau hat an der Universität Zürich Rechtswissenschaften studiert. Sie hält einen Master in Economic Crime Investigation und ist eidg. dipl. Expertin in Rechnungslegung und Controlling. Grau leitet den Themenbereich Wirtschaftskriminalistik am Institut für Finanzdienstleistungen Zug IFZ der Hochschule Luzern, wo sie seit 2018 als Dozentin und Projektleiterin tätig ist. Ihr obliegt auch die Leitung des Weiterbildungslehrgangs MAS Economic Crime Investigation. Nach Jahren in der Treuhand und internen Revision wechselte sie zur internen Untersuchung von Wirtschaftsdelikten und leitete zuletzt die Abteilung Forensics in einer führenden Schweizer Wirtschaftsprüfungs-, Treuhand- und Beratungsgesellschaft. Danach wechselte sie in die Strafverfolgung und übernahm die Leitung des Dienstes Wirtschaftsdelikte einer Kriminalpolizei. Neben der Wirtschaftskriminalistik und Wirtschaftsermittlung liegt ihr Schwerpunkt bei der Buchführung und Rechnungslegung, insbesondere bei den Themen Bilanzmanipulation und Bilanzfälschung. Sie publiziert regelmässig, so hat sie im Praxiskommentar Rechnungslegung nach Obligationenrecht den Beitrag «Bilanzfälschung» veröffentlicht. Susanne Grau amtet zudem als Vizepräsidentin von SwissAccounting und ist Vorstandsmitglied der SEBWK Schweizerische Expertenvereinigung «Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität».