Der ewige Verlierer. Ob dieses Jahr, im fünfjährigen Zeitfenster oder während der letzten 20 Jahre: Die Aktien von Clariant haben in allen drei Zeitspannen den Grossteil der Branchenkonkurrenten unterboten. Die Bilanz fällt nüchtern aus: Nach 20 Jahren notiert der Aktienkurs 76 Prozent tiefer. Im Jahresverlauf verlieren die Valoren des Spezialchemiekonzerns etwa 16 Prozent. Derzeit notiert die Aktie auf dem tiefsten Stand seit zwölf Jahren.

Das könnte sich nun ändern. Die Kurszielschätzungen der Unternehmensanalysten liegen im Schnitt bei knapp 14,90 Franken - das entspricht einem Gewinnpotenzial von 40 Prozent. Bis zum Geschäftsjahr 2026 dürfte der Gewinn pro Aktie (Earnings Per Share, EPS) um knapp 38 Prozent ansteigen.

Auch von steigenden Margen gehen die Experten aus - die Ebitda-Marge sehen sie in zwei Jahren knapp 13 Prozent höher. Mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von etwa 12,5 und einem Bewertungsniveau, das bis zu einem Drittel unter den Peers liegt, gehört Clariant zu den am attraktivsten bewerteten Schweizer Chemieunternehmen.

Doch weshalb lief bei Clariant vieles schief? Einiges hängt mit der Person Hariolf Kottmann zusammen. Von 2008 bis 2018 war Kottmann als CEO und von 2019 bis 2021 als Verwaltungsratspräsident für Clariant tätig, bis er einen Machtkampf mit dem Grossaktionär Sabic verlor, dem saudi-arabischen Chemie- und Metall-Konzern.

Unter der Leitung von Kottmann - dessen Vergütungen immer wieder Anlass boten für Kritik - geschah viel. Allerdings blieb eine der zentralsten Kennzahlen, der Gewinn pro Aktie (Earnings Per Share, EPS), während dieser Zeit nahezu unverändert. Kursschwankungen waren damit lediglich auf Veränderungen des Bewertungsniveaus zurückzuführen. Ohne nachhaltige Gewinnsteigerungen waren diese Aktienkursavancen jedoch nicht nachhaltig. Und genau dies könnte sich bald ändern.

Kursentwicklung von Clariant in Franken.

Fehleinschätzungen und geplatzte Deals

Kottmann musste sich von Beginn an als Restrukturierer beweisen. Der Leistungsausweis fällt gemischt aus. Unter Kottmann tätigte der Spezialchemiekonzern mehrere Unternehmenskäufe und -verkäufe und er vermochte die Reingewinnmarge von 2 Prozent auf durchschnittlich 6 Prozent zu erhöhen - das ist beachtlich.

Da Kottmann jedoch bereits kurz nach seinem Stellenantritt Clariant und die deutsche Südchemie im Jahr 2011 fusionierte, woraufhin das Verhältnis von Nettoverschuldung zum Ebitda von 0,1 auf 1,8 anstieg, waren Kottmann für die Folgejahre die Hände gebunden. Die Unternehmenstransaktionen beschränken sich in den Folgejahren auf Verkäufe. Dies reduzierte den Umsatz und trotz der Margenexpansion konnte nie eine wesentliche Steigerung des EPS erreicht werden: 2008 betrug das EPS 1,20 Franken, 2018 waren es mit 1,50 Franken nur unwesentlich mehr.

Unter Marktteilnehmern war Clariant in dieser Zeit auch bekannt dafür, dass sich die Firma selbst überschätzte. Eine Auswertung des Überraschungseffekts der Quartalsergebnisse - dabei werden die effektiven Resultate mit den Markterwartungen verglichen - zeigt, dass Clariant im Zeitraum von 2008 bis 2018 in nur 52 Prozent der Fälle die erwarteten Umsätze und in nur 62 Prozent der Fälle die Gewinnerwartungen übertreffen konnte. 

Die 2017 geplatzte Fusion mit dem US-Konkurrenten Huntsman schmälerte das Anlegervertrauen weiter. Auch der im Folgejahr gross angekündigte Deal über die Zusammenlegungen von Teilen der Geschäfte mit dem Chemiekonzern Saudi Basic Industries Corporation, kurz Sabic, kam nie zustande. Ein abrupter CEO-Wechsel unter dem Verwaltungsratspräsidenten Kottmann in 2019 verspielte das Vertrauen komplett. 

Von Oktober 2008 bis Sommer 2019 lagen die Clariant-Titel mit nur 34 Prozent im Plus. Die Konkurrenten BASF (+65 Prozent), Lanxess (+67 Prozent), Solvay (+75 Prozent), Akzo Nobel (+75 Prozent), Arkema (+338 Prozent) schnitten damit in der gleichen Zeit um Welten besser ab.

Fundamentale Veränderungen und Unabhängigkeit

Derweil waren Kottmanns Ideen allesamt richtig. Er versuchte, Clariants Fokus zu schärfen und verschlankte gleichzeitig die Unternehmensstruktur. Sogenannte «Pure-Plays» mit klarem Fokus erzielen in der heutigen Zeit deutliche Höherbewertungen als weniger spezialisierte Mischkonzerne. Eine Ausweitung der Margen geht ebenfalls meist mit einer Erhöhung des Bewertungsniveaus einher.

Gleichzeitig verdankt ihm Clariant seine Unabhängigkeit. Ohne Kottmann wäre gemäss Experten der Spezialchemiekonzern schon vor Jahren in die Einzelteile zerstückelt worden. Durch die unzähligen Transaktionen transformierte Kottmann aus einem Mischkonzern ein spezialisiertes Chemieunternehmen mit dem Fokus auf die Geschäftsbereiche Katalysatoren, Pflegechemikalien und Adsorptionsmittel. 

Seit der Übernahme des CEO-Posten durch Conrad Keijzer scheint die Baselbieter Firma, entstanden 1995 als Spin-off der Chemiesparte von Sandoz, nun auch wieder Vertrauen zurückzugewinnen. Die US-Investmentbank Stifel lobte kürzlich die am Investorentag veröffentlichten «plausiblen» Finanzziele und Erläuterungen. Auch die Experten der US-Grossbank JPMorgan sehen in den nachvollziehbaren Daten konkrete Beweise dafür, dass Clariant in Zukunft stärker als der Markt wachsen könne und die Margen stark steigen würden.

Keijzer hat es seit seinem Stellenantritt geschafft, in über 61 Prozent der Fälle die Umsatzerwartungen der Analysten zu übertreffen und in 100 Prozent der Fälle Gewinnerwartungen. Dies baut das für eine Höherbewertung dringend nötige Vertrauen wieder auf.

Auch der Wiedererhalt der Investment-Grade-Einstufung durch die Ratingagentur «Moody's» zeugt von Keijzers Verlässlichkeit. Gemäss «Moody's» haben die verschiedenen Zu-und Verkäufe der letzten Jahre das Geschäftsprofil deutlich verbessert, die Geschäftsentwicklung robuster gemacht und der Fokus auf dem Schuldenabbau gezeigt, dass eine Heraufstufung gerechtfertigt sei.

Attraktive Finanzziele und Wachstum

Wie viel von den derzeitigen Erfolgen Kottmann respektive Keijzer zuzuschreiben ist, kann nicht abgeschätzt werden. Mit den mittelfristigen Zielen setzt sich Keijzer jedoch eine attraktive und dennoch realistische Stossrichtung: durchschnittliches Umsatzwachstum von 4 bis 6 Prozent, Ebitda-Margen in der Höhe von 19 bis 21 Prozent und eine freie Cashflow-Umwandlung von etwa 40 Prozent.

Das jährliche Umsatzwachstum der vergangenen 14 Jahre lag im Durchschnitt bei minus 2 Prozent, die Ebitda-Margen betrugen 15,3 Prozent und die freie Cashflow-Umwandlung lag bei durchschnittlich 18 Prozent. Das derzeitige Geschäftsjahr verlief bisher unter diesen Zielen. Zu anspruchsvoll war das widrige Geschäftsumfeld in den verarbeitenden Industrien, von dem besonders auch die europäische und deutsche Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Doch Goldman Sachs nennt einen konkreten Zeitpunkt für die Wende bei Clariant. Ab dem zweiten Semester 2025 sollte insbesondere das Katalysatorengeschäft besser abschneiden. Bewahrheitet sich dieses Szenario, treffen drei Faktoren aufeinander, von denen besonders Investoren profitieren dürften.

Gemäss der bei Vontobel zuständigen Analystin dürfte Clariant aufgrund seiner starken operativen Hebelwirkung von einem wirtschaftlichen Aufschwung der Schlüsselmärkte profitieren. Wachstum und Rentabilität dürften demnach überdurchschnittlich ansteigen. Auch sie merkt an, dass in den vergangenen Jahren enorme Anstrengungen unternommen wurden, aus Clariant ein fokussiertes Spezialchemieunternehmen zu machen und dies nun eine solide Grundlage für das künftige Wachstum sei.

Zweitens hat Clariant seit mehreren Jahren erneut bewiesen, das Vertrauen der Investoren verdient zu haben. Die Enttäuschungen, die bis vor kurzem einen negativen Einfluss auf die Bewertung hatten, dürften wegfallen. Wird dies der Fall sein, dürfte aus einem Abschlag ein Premium werden. Ein EPS-Anstieg von knapp 38 Prozent und ein Bewertungsanstieg auf das Niveau der Peers von weiteren 30 Prozent bieten enormes Kurspotenzial.

Den letzten Hinweis geben die Managementtransaktionen. In diesem Jahr fanden ausschliesslich Käufe von Clariant-Verantwortlichen im Umfang von 660’000 Franken statt. Besonders im aktuellen Marktumfeld ist dies von Bedeutung. Gemäss Daten der «Financial Times» haben die Verkäufe der Insider von S&P 500-Unternehmen ein Rekordniveau erreicht. Das erstaunt nicht, denn der S&P 500 notiert in der Nähe der höchsten je gemessenen Bewertung. 

Wie schnell die Erholung von Clariants Schlüsselmärkten eintritt, bleibt abzuwarten. Ein neunmonatiger Zeithorizont, wie von Goldman Sachs prognostiziert, scheint derweil realistisch. Eine zusätzliche Verschlimmerung in den Schlüsselmärkten dürfte die Kurserholung hingegen weiter verzögern. Nach den vielen Enttäuschen bleibt die Mehrheit der Analysten vorsichtig mit ihrer Einschätzung. Clariant bietet auch weiterhin ein gewisses Potenzial für Überraschungen. Aber Investorengeduld könnte sich auszahlen.

Luca_Niederkofler
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