Der 4. März 2018 war ein kalter und sonniger Sonntagmorgen. Im Musikantenviertel von Haan, einer der Städte im Speckgürtel von Düsseldorf, lagen noch ein paar verstreute Schneeflocken auf dem Gras. Bernhard Günther, damals Finanzvorstand des Energieunternehmens Innogy, kehrte gerade von der wöchentlichen Runde seiner Laufgruppe zurück. Er hatte sich eben von dem letzten Jogging-Kumpel verabschiedet und noch schnell beim Bäcker Brötchen geholt.

Als er von der Mozartstrasse in einen von Bäumen und Büschen gesäumten Querweg einbog, packte ihn ein Mann von hinten. Günther versuchte nach vorne zu entkommen, doch ein zweiter Mann versperrte ihm den Weg. Für einen kurzen Moment blickte er ihm direkt in die Augen. Die beiden drückten den Manager zu Boden. Einer schüttete ihm aus einem Schraubglas eine brennende Flüssigkeit ins Gesicht.

Dann verschwanden die Angreifer. Günther rannte nach Hause.

Die Flüssigkeit war konzentrierte Salzsäure. Sie verätzte einen Grossteil seines Gesichts und kostete ihn fast das Augenlicht. «Wenn ich die Säure nicht abgewaschen hätte, wäre von meinem Gesicht wahrscheinlich nicht viel übrig geblieben», erinnert sich Günther.

Der Tag im März war der Beginn eines langen Kampfes. Der heute 57-jährige Manager musste nicht nur mit dem Trauma zurechtkommen, im wörtlichen Sinne sein Gesicht zu verlieren. Schmerzhaft waren auch seine Erfahrungen mit dem Justizsystem.

Viele Opfer von Straftaten machen die ernüchternde Erfahrung, dass die Justiz nicht automatisch ihre Sicht der Dinge übernimmt. Dass Ermittlungen manchmal quälend lange dauern, und Strafverfolgungsbehörden nicht immer alles tun können, um Schuldige zu ermitteln. Und dass manchmal die Wahrheit nicht ans Licht kommt.

Doch am Morgen des Überfalls war er erst einmal im Überlebensmodus. Seine Frau war noch auf dem Rückweg von einem Besuch in Köln. Oben im Haus schliefen seine 10-jährigen Zwillinge, ihnen wollte er den Anblick seiner Verletzungen ersparen. Er wählte den Notruf. Die Sanitäter forderten sofort einen Rettungshubschrauber an, der ihn in eine Klinik nach Duisburg flog, die auf Brandverletzungen spezialisiert ist. Er kam auf die Intensivstation.

«Am Anfang hatten wir keinerlei Anhaltspunkte», erinnert sich Dorothea Tumeltshammer, Oberstaatsanwältin in Wupptertal, die die Ermittlungen leitete. «Es sah aus, als sei er kein Zufallsopfer gewesen.»

Es gab keine Zeugen. Die Polizei überprüfte alle Überwachungskameras der Umgebung, aber das ergab nichts. Die einzigen Spuren waren das Schraubglas, das die Täter zurückgelassen hatten, und ein Gummihandschuh, an dem eine DNA haftete. Die Düsseldorfer Polizei richtete eine Ermittlungsgruppe ein, die schliesslich auf etwa 30 Personen anwuchs. Sie trug den Namen MK Säure.

Belastende Fragen

Gewalttaten passieren selten rein aus Zufall. In den meisten Fällen stehen Täter und Opfer in irgendeiner Beziehung zueinander. Daher werden 80 Prozent der Ermittlungen wegen schwerer Körperverletzung in Deutschland aufgeklärt; im Durchschnitt aller Verfahren liegt die Quote bei weniger als 60 Prozent. Säureangriffe, die vor allem aus Südostasien als Racheakte gegen Frauen bekannt sind, lassen auf ein besonders persönliches Motiv schliessen.

Deshalb konzentrierte sich die Polizei zunächst auf Günthers Familie und sein privates Umfeld. Günther empfand Fragen nach möglichen Affären — von denen er ja wusste, dass es sie nicht gab — als rücksichtslos und sehr belastend. Für ihn war klar, dass die Täter woanders herkommen mussten.

Um weitere Ermittlungsansätze zu finden, bat ihn die Polizei, möglichst weit zu denken. «Sie sagten: ‹Spinnen Sie mal rum, nennen Sie ruhig Namen› », erinnert sich Günther. «‹Wir werden das nicht als Verleumdung behandeln› .»

Aus Günthers Sicht war von Anfang an klar, dass der Schlüssel zur Aufklärung der Tat in seinem beruflichen Umfeld liegen musste. Es war nämlich nicht das erste Mal, dass er beim Joggen angegriffen wurde. Und beide Taten fielen in eine Zeit beruflicher Umwälzungen.

Der erste Angriff

Im Sommer des Jahres 2012, ebenfalls an einem Sonntagmorgen, war Günther unterwegs auf einer Strecke nahe eines Waldgebiets, damals seine übliche Route — nur lief er an diesem Tag eine Stunde früher als üblich. Als er zwei Männer am Strassenrand sah, dachte er sich zunächst nichts dabei. Doch sie griffen ihn an und schlugen ihn mit einem schweren Ast zu Boden. Für die Polizei war er ein Zufallsopfer, zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Günther hatte dem wenig entgegenzusetzen, schliesslich hörte man dann und wann von unmotivierten Gewalttaten. Trotzdem: Dass einer seiner Angreifer im Sommer Handschuhe trug, fand er merkwürdig.

Ein paar Wochen nach dem Säure-Angriff schlug ein befreundeter Kollege Günther vor, darüber nachzudenken, wer in beiden Fällen davon profitiert hätte, ihn aus dem Weg zu räumen.

Zur Zeit des ersten Angriffs, im Jahre 2012, war Günther Manager beim Essener Energieriesen RWE und neben anderen Kandidaten für den Posten des Finanzvorstands im Gespräch (den er später auch bekam).

Nachdem RWE die Tochter Innogy abgespalten hatte, wurde er dort Finanzvorstand. Wenige Monate vor dem Säure-Attentat feuerte Innogy seinen Vorstandvorsitzenden Peter Terium. Günther war einer der Kandidaten für seine Nachfolge.

Er schrieb die potenziellen Mitbewerber für jeden dieser beiden Posten auf. Als Günther die zwei Listen abglich, blieb nur ein Name übrig: ein ehemaliger Managerkollege bei RWE. Er nannte ihn Mr. X.

Passive Rolle

In Europa hat der Staat seit dem Mittelalter nach und nach die Strafrechtspflege monopolisiert. Für diese historische Entwicklung gibt es viele Gründe. Heute betrachtet man es als einen Pfeiler der Rechtsstaatlichkeit, dass die Justiz Straftaten verfolgt. Damit soll sichergestellt werden, dass unparteiisch ermittelt wird und die Grundrechte des Beschuldigten gewahrt bleiben.

Das Opfer muss sich mit einer eher passiven Rolle abfinden - technisch gesehen ist es zunächst nur Zeuge einer Straftat. Zwar haben die Rechtssysteme weltweit in den letzten Jahrzehnten dem Opfer mehr Beteiligungsrechte eingeräumt. Das ändert aber nichts an dem Dilemma, dass die Behörden seine Sicht der Dinge ebenso kritisch prüfen müssen wie alle anderen Anhaltspunkte.

Günther lieferte den Behörden zwar Namen von Personen, die vielleicht als Täter in Frage kamen, konnte aber nicht wissen, was die Polizei im Einzelnen daraus machte — und was zum Beispiel gegen Mr. X unternommen wurde. Manchmal hörte er lange nichts von den Ermittlern.

Im April 2018, nur wenige Wochen nach dem Attentat, nahm er nach und nach seinen Job wieder auf. Arbeit, so fand er, war eine gute Möglichkeit, mit dem Geschehenen zurechtzukommen.

Gleichzeitig kämpfte er mit den Folgen des Überfalls — und das bedeutete endlose Arztbesuche und Operationen. Das Gewebe seiner Ober- und Unterlider starb ab. Da er die Augen nicht mehr ganz schliessen konnte, bestand das Risiko, zu erblinden. Schliesslich entfernten die Ärzte die Lider und vernähten vorübergehend die Augen. Haut wurde transplantiert, um neue Lider zu formen. Diese Prozedur musste später wiederholt werden.

Einige Monate nach Beginn der Ermittlungen stufte die Staatsanwaltschaft den Fall von versuchtem Mord auf schwere Körperverletzung zurück, weil klar wurde, dass die Säure nicht tödlich gewesen sein konnte. Damit wurden der Polizei besonders scharfe Ermittlungsinstrumente wie das Abhören der Telefone der mutmasslich Beteiligten genommen. Eines Tages im September teilte die Staatsanwaltschaft dem Leiter der Presseabteilung von Innogy mit, dass das Verfahren eingestellt werde.

«Es wurde jeder Stein umgedreht», erklärt Tumeltshammer dazu heute. «Wir haben die Ermittlungen eingestellt, nachdem wir sämtlichen Spuren nachgegangen waren und es keine Ermittlungsansätze mehr gab.»

Für Günther war das ein Schock. Und er war nicht gewillt, es einfach so hinzunehmen. Zusammen mit seiner Frau beschloss er, die Sache selbst anzugehen.

Das Ehepaar engagierte einen Rechtsanwalt und ein Team von Privatdetektiven. Sie kamen auf die Idee, eine hohe Belohnung für Hinweise auf die Täter auszusetzen. Innogy war bereit, dafür 80'000 Euro auszuloben. Sascha Kuhn, ein Anwalt, der sich auf Whistleblower-Hotlines in Unternehmen spezialisiert hat, wurde an Bord genommen, er sollte die Kontaktperson für Hinweisgeber sein.

Die Polizei verteilte die Plakate mit dem Aufruf und der Belohnung von 80'000 Euro im Düsseldorfer Raum. Im November meldete sich der entscheidende Hinweisgeber.

Spur ins Rotlichtmilieu

Der Mann, der sich mit einem Decknamen vorstellte, erzählte Kuhn, dass er wisse, wer die beiden Angreifer waren. Einer, der «Schönling», sei Serbe, der andere Türke. Beide seien Stammgäste im Düsseldorfer Rotlichtmilieu. Auftraggeber sei ein «hohes Tier« aus der Wirtschaft gewesen, der den Auftrag über das Rockermilieu erteilt habe.

Der Informant kannte Details, die bis dahin nicht öffentlich waren, das machte ihn glaubwürdig. Den Namen des Türken wollte er nicht preisgeben. Aber gegen etwa 10'000 Euro erhielt Kuhn drei Fotos des «Schönlings» und seinen Namen: Marko L.

Kuhn schickte die drei Fotos an Günther. Bei zweien war er sich nicht sicher. Aber, so sagte Günther später vor Gericht aus, er werde nie das Gefühl vergessen, als er die dritte Bilddatei öffnete. Sie zeigte Marko L. vor der Pyramide des Louvre in Paris. Es war der Mann, der ihm an jenem Märzmorgen den Weg versperrt hatte und dem er für einen kurzen Moment direkt in die Augen geblickt hatte. Es habe «Klick» gemacht, als er das Bild gesehen habe, so Günther.

Kuhn traf sich über Monate immer wieder mit dem Informanten an verschiedenen Orten in Düsseldorf und arbeitete mit ihm Fragenlisten der Polizei ab.

«Es war sehr schnell klar, der ist nicht auf den Kopf gefallen«, so Kuhn. «Auf der andere Seite war auch klar, das ist nicht einer, der abends im Kirchenchor singt. Den würden Sie vielleicht nicht zu Ihrer Geburtstagsfeier einladen.»

Der Hinweisgeber habe von Anfang an gesagt, seine einzige Motivation sei das Geld. Kuhn erinnert sich, wie er einmal 50'000 Euro von der Commerzbank-Filiale auf der Breiten Strasse in Düsseldorf abholte und mit einem etwas mulmigen Gefühl im Rucksack durch die Stadt trug, um sie seinem Gesprächspartner zu bringen.

Marko L. – der sich im Ausland aufhielt - wurde im Oktober 2019 bei einer Ringkampfveranstaltung im Düsseldorfer Raum festgenommen. Er bestritt, an der Tat beteiligt gewesen zu sein. Und seine DNA stimmte nicht mit der Spur vom Tatort überein. Das Landgericht setzte ihn auf freien Fuss.

«Wir dachten: Das war’s, den kriegen wir nicht mehr», erinnert sich Kuhn.

Einen Monat später gab Günther dem Handelsblatt ein wütendes Interview, in dem er die Behörden offen kritisierte. Einiges, was in der Justiz passiere, sei «für mich als Bürger und Überfallopfer nur schwer nachvollziehbar und hinnehmbar.» Er versprach, nicht aufzugeben, um den Fall zu lösen.

Ein halbes Jahr später erklärte sich Innogy bereit, noch einmal 100'000 Euro auszusetzen, um neue Hinweisgeber zu finden. Ein weiteres Jahr verging, ohne dass sich etwas ergab. Also wandte sich Günthers Team erneut an denselben Informanten, um ihn zu bitten, die Identität des zweiten Mannes, des «Türken«, preiszugeben.

«Wir dachten, wir haben ja nichts zu verlieren und vielleicht wäre er ja jetzt bereit, mehr über die zweite Person zu sagen», so Kuhn. «Nach einigen Tagen des Nachdenkens hat er zugestimmt.»

Im August 2021 trafen sich die beiden zum letzten Mal. Kuhn bekam den Namen des zweiten Angreifers: Nuri T., ein in Belgien lebender Mann.

Nun ging es schnell. Im Dezember 2021 lieferte die belgische Justiz Nuri T. an Deutschland aus. Seine DNA stimmte mit der Spur überein, die dreieinhalb Jahre zuvor im Gummihandschuh am Tatort klebte. Nuri T. bestritt vehement, etwas mit dem Angriff zu tun zu haben. Doch eine Strafkammer des Landgerichts Wuppertal war von seiner Schuld überzeugt und verurteilte ihn zu 12 Jahren Freiheitsstrafe.

Nuri T.‘s Hauptverhandlung, insbesondere seine Einlassung, ergab eine Reihe neuer Informationen für die Ermittlungen. Daraufhin wurde Marko L. im Mai 2023 abermals verhaftet. Anfang dieses Jahres verurteilte das Landgericht Wuppertal ihn zu 11 Jahren Gefängnis.

Beide Männer gingen in Revision, doch der Bundesgerichtshof bestätigte die Urteile.

Der Informant, dessen Name nicht bekannt wurde, kassierte die gesamte Belohnung von 180'000 Euro.

Geld und Gerechtigkeit

Ohne das Geld von Innogy und Günthers persönliches Vermögen wäre wahrscheinlich keiner der beiden Männer gefasst worden. Die Staatsanwaltschaft kann in der Regel nur bis zu 5'000 Euro ausloben.

«Das hinterlässt einen schalen Geschmack, auch bei uns», sagt Tumeltshammer. «Ohne diesen erheblichen Betrag hätten wir die Täter zu diesem Zeitpunkt nicht überführen können.»

Die Mittelsmänner und der Auftraggeber sind noch immer nicht gefasst. Und es ist unklar, ob das jemals passieren wird. Kuhn ist verhalten optimistisch.

«Ich würde nicht sagen, dass es überwiegend wahrscheinlich ist, aber es gibt eine gute Chance», sagt er. «Wir haben ja schon eine sehr klare Idee, und das ist eine ganz andere Ausgangslage.»

Tumeltshammer leitet inzwischen eine andere Abteilung der Staatsanwaltschaft Wuppertal. Die Behörde ermittelt weiter, wollte aber nichts dazu mitteilen, wie es in der Sache weitergeht.

Marko L. und Nuri T. könnten ihre Chancen auf Bewährung erhöhen, wenn sie mit der Staatsanwaltschaft kooperierten. Allerdings schrecken Täter, die mit dem Organisierten Verbrechen in Verbindung stehen, aus Angst um ihre Angehörigen meist davor zurück.

Ausserdem tickt die Uhr: Die meisten Delikte verjähren irgendwann, dann kann die Staatsanwaltschaft niemanden mehr anklagen. Anders wäre es nur, wenn sie wegen versuchtem Mord ermitteln könnte.

Mr. X arbeitet nicht mehr bei einem der grossen Energiekonzerne. Günther hat ihn bisher nicht konfrontiert.

«Aber ich überleg’s mir schon», sagt er. «Ich habe das bisher bewusst nicht gemacht, denn am liebsten wäre es mir ja, wenn die Ermittlungen zu diesem Punkt kämen. Deshalb habe ich mir in dieser Hinsicht Zurückhaltung auferlegt.»

Nach zahlreichen Eingriffen hat sich der Zustand von Günthers Gesicht über die Jahre verbessert, doch dicke Stränge von Narbengewebe machen es ihm immer noch schwer, die linke Seite und den Hals zu bewegen. An seinen Augen sind weitere Operationen geplant. Er geht nie aus dem Haus, ohne sich zu schminken. An die Reaktionen, die manche Menschen zeigen, wenn sie ihm das erste Mal begegnen, hat er sich inzwischen gewöhnt.

Vor Kameras fühlt er sich weiter unwohl. Und beim Blick im Spiegel sieht er ein Gesicht, das ihm fremd vorkommt.

«In 90 Prozent der Träume ist das neue Gesicht nicht da und und ich spüre auch die körperlichen Einschränkungen nicht», sagt Günther.

Wie viele Menschen, die traumatische Erfahrungen überlebt haben, hat sich auch Günthers Sicht auf vieles verändert. Er nehme sich jetzt mehr Zeit für enge Freunde, sagt er. Nachdem der Manager bei Innogy Ende 2020 ausschied, wurde er Vorstandsmitglied beim finnischen Energieriesen Fortum. Im Juni kündigte er an, den Konzern Ende des Jahres zu verlassen.

Die Wahrheit über diese Tat ans Licht zu bringen, steht weiterhin oben auf seiner Prioritätenliste. «Für mich und meine Frau ist der Fall mitnichten abgeschlossen», sagt er. «Er ist erst abgeschlossen, wenn die Kette der Hintermänner aufgedeckt ist bis zum Auftraggeber.»

Noch immer joggt Günther Sonntagmorgens. Seine Laufgruppe holt ihn immer ab und begleitet ihn am Ende zurück bis zur Haustür.

(Bloomberg/cash)