Deutlich geringere Inflationsraten erlauben es den Währungshütern der Europäischen Zentralbank (EZB), den zuvor auf den Rekordwert von 4,5 Prozent heraufgesetzten Leitzins zu senken - voraussichtlich auf 4,25 Prozent. Was das für die Aktienmärkte, Konjunktur und den Euro bedeutet:

Was bedeutet der Zinsschritt für den Aktienmarkt?

Niedrigere Zinsen sind meist gut für die Aktienkurse. Zum einen werden die Firmen bei Kreditkosten entlastet, was deren Profitabilität tendenziell steigert. Zum anderen werden Zinspapiere wie Anleihen oder Festgeld unattraktiver, weil sie weniger abwerfen - Aktien wiederum werden dadurch beliebter. «Anleger sollten allerdings nicht davon ausgehen, dass diese Zinssenkung per se ein positiver Impuls für den Aktienmarkt sein wird», betont Thomas Altmann von der Investmentboutique QC Partners. «Die Börsen haben einen ersten Zinsschritt im Juni schon vor Monaten eingepreist.»

Entscheidend für die Aktienmärkte dürfte daher der Zinsausblick der EZB sein. «Bei der Zinsdebatte darf vor allem eines nicht vergessen werden: Zu Jahresbeginn lag die Konsens-Schätzung bei sechs bis sieben Zinssenkungen in diesem Jahr», sagt Altmann. «Aktuell liegt diese Prognose noch bei zwei bis drei Zinssenkungen.» Dennoch habe der deutsche Leitindex Dax seit Jahresbeginn 30 neue Allzeithochs markiert. «Da sollte es niemanden überraschen, wenn der tatsächliche Beginn der Zinssenkungen nicht zu erneuten Kursgewinnen führt.»

Experten weisen allerdings darauf hin, dass die hartnäckig hohen Konsumentenpreise in Europa die Währungshüter von weiteren Zinssenkungen dieses Jahr abhalten könnten. «Die Inflation liegt immer noch deutlich über dem Ziel von zwei Prozent. Ausserdem gibt es Anzeichen dafür, dass die Wirtschaft der Euro-Zone wieder etwas an Fahrt gewinnt», sagt etwa Mark Dowding, Chefanleger beim Vermögensverwalter BlueBay. Die Notenbanker versuchen, mit straffer Geldpolitik die hohe Teuerungsrate in Schach zu halten, ohne die Konjunktur abzuwürgen. Das Aufwärtspotenzial des Aktienmarkts könnte somit begrenzt sein.

Kommt die Eurozone-Konjunktur jetzt in Schwung?

Niedrigere Kreditzinsen können der Wirtschaft auf die Sprünge helfen. «Die damit verbesserten Finanzierungsbedingungen für Unternehmen werden die privaten Investitionen ankurbeln», erwartet die Wirtschaftsweise Ulrike Malmendier. Allerdings: Die Zinssenkung dürfte frühestens 2025 stützen, erwartet der Sachverständigenrat in seiner Frühjahrsprognose für die Bundesregierung. «Zinssenkungen wirken sich mit einer unterschiedlich langen Verzögerung auf die Konjunktur aus», sagt auch Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. «Im Durchschnitt vergeht gut ein Jahr, bis die Konjunktur von niedrigeren Zinsen profitiert.»

«Eine zu schnelle und zu starke Senkung der Kreditkosten in den nächsten Monaten könnte die Konjunktur möglicherweise übermässig stimulieren und eine zweite Inflationswelle auslösen», sagt Fachmann Ben Laidler von der Handelsplattform eToro. Vielmehr sei zu erwarten, dass die Notenbank von Sitzung zu Sitzung und auf Grundlage der Daten über ihre Ausrichtung entscheiden werden, sagt Konstantin Veit vom grossen Vermögensverwalter Pimco. Von einem schnellen Aufschwung der Konjunktur sollte deshalb nicht ausgegangen werden.

Welche Branchen profitieren besonders?

«Grundsätzlich profitieren alle Branchen von niedrigen Zinsen, weil die Unternehmen günstiger an Fremdkapital kommen und mehr investieren», erklärt Commerzbank-Experte Krämer. «Die Zinssensitivität ist aber in der Immobilienwirtschaft sicherlich am grössten, weil Bauherren in der Regel sehr viel Fremdkapital benötigen.» Gesehen habe man das mit umgekehrtem Vorzeichen nach den massiven Zinserhöhungen der EZB, als die Nachfrage im Wohnungsbau um rund ein Drittel eingebrochen sei.

Welche Folgen hat dies auf den Euro-Wechselkurs?

Experten rechnen hier nicht mit grösseren Folgen. «Zinssenkungen machen Währungen im Vergleich zu anderen Währungsräumen relativ gesehen weniger attraktiv, also tendenziell schwächer», sagt der Leiter Strategische Vermögensplanung beim Assetmanager HQ Trust, Thomas Neukirch. «Da es sich hier aber nur um einen kleinen Schritt handelt und viele andere Faktoren die Wechselkurse ebenfalls beeinflussen, rechnen wir kurzfristig nicht mit grösseren Folgen.» Der Franken könnte sich allerdings aufwerten, sollte die Schweizerische Nationalbank am 20. Juni den Leitzins für die Schweiz unverändert lassen und die EZB die Zinsen senken.

Bekommen Sparer weniger Zinsen?

«Beim Tagesgeld und Festgeld wird sich die EZB-Senkung sofort auswirken», sagt Max Herbst von der Finanzberatung FMH. Denn die EZB dürfte nicht nur den Leitzins, sondern auch ihren Einlagenzins senken. Dieser bestimmt, wie viel Geld die Kreditinstitute für ihr bei der EZB geparktes Geld erhalten.

Einen Grossteil dieses Zinses haben viele Banken in den vergangenen zwei Jahren an ihre Kunden weitergegeben. Nun dürfte der Einlagezins von 4,0 auf 3,75 Prozent erstmals wieder herabgesetzt werden. Einige Banken haben im Vorgriff darauf bereits ihre Zinsangebote für Tages- und Festgeld gesenkt. «Es besteht zwar nur bei ganz wenigen Banken mit Top-Zinsen die Veranlassung, die Senkung weiterzugeben», sagt Experte Herbst.

«Aber dies werden auch sehr viele andere Banken nutzen und ihre geringen Zinsangebote im Anlagebereich weiter senken.» Bundesweit verfügbare Festgelder mit einem Jahr Laufzeit brachten im Dezember noch durchschnittlich 3,34 Prozent Zinsen, so das Vergleichsportal Verivox. Aktuell sind es demnach nur noch drei Prozent. Doch wegen der gesunkenen Inflation bleibt davon in realer Kaufkraft mehr übrig.

(Reuters/cash/AWP)