Ganz kurz sah es Ende April so aus, als sei Wirecard der Befreiungsschlag gelungen. Der umstrittene Zahlungsdienstleister veröffentlichte den Sonderbericht der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG. "Belastende Belege für die öffentlich erhobenen Vorwürfe der Bilanzmanipulation wurden nicht gefunden", teilte das Unternehmen aus Aschheim bei München betont selbstsicher mit. Wirecard sah sich durch den Bericht freigesprochen.
Das Problem: Mit dieser Interpretation stand das Unternehmen weitestgehend allein da. Weder Analysten noch Anleger überzeugte der Bericht. Im Gegenteil. Die von Wirecard beauftragte KPMG-Sonderprüfung erwies sich eher als Eigentor. Zwar konnte die Prüfungsgesellschaft tatsächlich keine Beweise für die seit Jahren im Raum stehenden Vorwürfe der Bilanzmanipulation finden. Trotzdem machte der Bericht die Lage für Wirecard noch ungemütlicher.
Kein Interesse an Aufklärung?
Denn: Die Prüfer monierten die Kooperationsbereitschaft der Wirecard-Vorstände. So wurden etwa Dokumente teils verspätet zugestellt oder Interviewtermine immer wieder verschoben. Die Prüfung grosser Teile des für Wirecard wichtigen Drittanbietergeschäfts sei schlicht nicht möglich gewesen.
Die Prüfer werfen Wirecard unverhohlen vor, die Untersuchungen behindert zu haben. Allgemeines Fazit: Hier handelt es sich um ein Unternehmen, dass nicht sonderlich an der Aufklärung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe interessiert ist.
Die Börse strafte Wirecard konsequenterweise ab. Die Aktie rauschte nach Veröffentlichung des KPMG-Berichts bis zu 40 Prozent nach unten. Dazu muss man allerdings sagen, dass sie in den Wochen zuvor eine kleine Rally durchlebte, da Anleger offenbar auf einen positiven Prüfungsbericht spekulierten.
Wirecard reagiert mit Neuorganisation des Vorstands
Nicht zuletzt der massive Kurssturz dürfte dazu geführt haben, dass der Aufsichtsrat – so wird in Deutschland der Verwaltungsrat bezeichnet – dann doch schneller als erwartet Konsequenzen aus dem KPMG-Debakel zog. Am Sonntag verkündete Wirecard eine Neuorganisation des Vorstands, der die Macht von CEO Markus Braun stark beschneiden wird.
Braun verliert die Verantwortung über die Kommunikation mit den Investoren sowie Teile des operativen Vertriebs. Dafür soll er sich künftig um die strategische Weiterentwicklung des Zahlungsdienstleisters kümmern, so die Mitteilung.
Dafür will Wirecard zwei neue Positionen im Vorstand ins Leben rufen, die Kritiker beschwichtigen sollen. Zum einen zieht mit dem US-Amerikaner James Freis ein neuer Compliance-Chef in den Vorstand. Dieser soll das neu erschaffene Ressort Recht, Vertragswesen und Compliance aufbauen und leiten. Freis ist derzeit noch Chief Compliance Officer der Deutschen Börse und gilt als angesehener und integrer Manager.
Ein neuer starker Mann
Zweitens soll eine weitere Stelle im Vorstand für einen Chief Operating Officer (COO) geschaffen werden. Dieser soll alle Tochtergesellschaften von Wirecard koordinieren und das operative Geschäft verantworten – in den Augen vieler Analysten ein überfälliger Schritt.
Bisher herrschte beim Zahlungsdienstleister im Vertrieb eine Art Matrixorgansiation, in der sich einzelne Vorstände um unterschiedliche regionale Bereiche kümmerten. Der neue COO soll die Verantwortung für sämtliche Kontinente erhalten: Amerika, Europa, Mittlerer Osten, Afrika und Asien. Wer auch immer die Position einnehmen wird, er soll der neue starke Mann im Wirecard-Management werden.
Aktie reagiert auf Neuorganisation
Anleger reagierten am Montag fast euphorisch auf die angekündigte Neuorganisation. Bis zu 12 Prozent schoss die Aktie nach oben. Auch Analysten äussern sich positiv zu den Plänen. Die Baader Bank sprach am Montag von einer "möglichen Neubewertung" der Wirecard-Aktie.
Analyst Knut Woller schreibt, er begrüsse die angekündigten Massnahmen und habe die Hoffnung, dass sich die Märkte nun wieder auf das fundamentale Geschäft des Zahlungsdienstleisters konzentrierten.
Auch die Commerzbank sieht in dem Umbau ein positives Signal. Analystin Heike Pauls zeigt sich geradezu begeistert. Die Pläne für die Neuorganisation seien ein "Game-Changer", wie sie in ihrer Analyse schreibt. Die Ernennung des neuen Compliance-Vorstands sei von hoher symbolischer Wichtigkeit und der Lebenslauf des designierten Leiters James Freis tadellos.
Die zweitgrösste deutsche Bank empfiehlt die Titel denn auch zum Kauf mit einem stolzen Kursziel von 230 Euro (aktueller Kurs: 88,5 Euro).
Knackpunkt COO-Position
Tatsächlich ist die Reaktion des Wirecard-Vorstands ein gutes Zeichen für die Anleger – vielleicht das beste Signal seitdem die Financial Times vor über einem Jahr ihre Vorwürfe der Bilanzfälschungs formulierte.
Die unübersichtliche Organisationsstruktur von Wirecard ist einer der Knackpunkte bei der Kritik an Wirecard. Das Unternehmen macht einen Grossteil seines Umsatzes über Drittpartner in Ländern, in denen das Unternehmen selbst über keine Lizenz als Zahlungsdienstleister verfügt. Die Geschäftsbeziehungen sind oft derart verflochten, dass sie kaum nachprüfbar sind.
Dass Wirecard diese Geschäfte nun mit dem neuen COO immerhin unter einem Dach organisieren möchte, kann der Transparenz nur dienlich sein. Positiv ist auch: Wirecard möchte in solchen Märkten ausserhalb Europas künftig vermehrt eigene Lizenzen erwerben, um so nicht mehr auf die Dienste von Drittanbietern angewiesen zu sein.
Einsteigen oder nicht?
Wirecard ist und bleibt bis auf Weiteres ein riskantes Investment. Daran ändert auch die angekündigte Neuorganisation vorerst nichts. Am Dienstag kündigte die deutsche Finanzmarktaufsicht BaFin an, zu untersuchen, ob Wirecard vor der Veröffentlichung des Sonderprüfungsberichts irreführende Angaben gemacht habe. Das zeigt, wie tief das Unternehmen im Sumpf der Verdächtigung steckt.
Dennoch geben die neuen Massnahmen Grund zur Hoffnung. Wichtig wird sein, wen Wirecard für die neue starke Position des COO präsentieren wird. Sollte der Aufsichtsrat einen anerkannten Top-Mann oder eine anerkannte Top-Frau mit überzeugendem Leumund gewinnen, könnte das der Aktie nicht nur kurzfristig Auftrieb geben.
Für Wirecard gilt: Sollte an den ganzen Vorwürfen nichts dran sein und sich das Unternehmen irgendwann reinwaschen können, kann die Aktie als massiv unterbewertet beurteilt werden. Sollten sich die Vorwürfe jedoch erhärten oder sogar eines Tages bewahrheiten, droht nicht nur den Anlegern ein Fiasko.