Die Währungshüter um Notenbankpräsidentin Christine Lagarde kappten den Leitzins um 0,25 Prozentpunkte auf 4,25 Prozent, wie die EZB am Donnerstag in Frankfurt mitteilte. Den am Finanzmarkt massgeblichen Einlagensatz, den Banken für das Parken von Geld bei der Zentralbank erhalten, senkte sie auf 3,75 Prozent von bisher 4,00 Prozent. Letztmalig hatte die Notenbank im September 2019 die Zinsen gesenkt.

Ökonomen und Finanzexperten sagten dazu in ersten Reaktionen:

Dean Turner, Chefvolkswirt für die Eurozone und Grossbritannien UBS Global Wealth Management:

«Die heute allgemein erwartete Zinssenkung der EZB wird für die Wirtschaft der Eurozone eine willkommene Erleichterung sein. Die Inflationsaussichten, wie sie in den jüngsten Prognosen der EZB angegeben werden, deuten auf weitere Zinssenkungen im weiteren Jahresverlauf hin. Natürlich ist der Zeitpunkt des nächsten Schritts der EZB ungewiss, da dieser von eingehenden Daten abhängt. Da der disinflationäre Prozess jedoch fest im Gange ist, sollten sich die EZB und andere Zentralbanken sicher genug fühlen, um die Politik zu lockern, höchstwahrscheinlich in einem Tempo von einer Senkung pro Quartal. Darüber hinaus sollten wir davon ausgehen, dass sich dieser Zinssenkungszyklus bis 2025 fortsetzt. Da der Zinssenkungszyklus in der Eurozone im Gange ist, besteht eine Hauptpriorität für Anleger darin, ihren Liquiditätsbedarf zu steuern. Die aktuellen Renditen auf Bargeld sind zwar attraktiv, werden aber nicht mehr lange anhalten. Wir befürworten eine Reduzierung der Bargeldbestände und bargeldähnlicher Anlagen zugunsten solcher, die dauerhaftere Renditen bieten können, wie zum Beispiel ein Portfolio aus Qualitätsanleihen.»

Jan von Gerich, Chefanalyst, und Tuuli Koivu, Chefökonomin, Nordea Bank: 

«Die EZB begann ihre Zinssenkungen mit einem Schritt von 25 Basispunkten, wollte aber keine klaren Signale für zukünftige Schritte geben. Da die Inflationsprognosen auf das Zielniveau zurückkehren und die Zinsen weiterhin restriktiv bleiben, gehen wir davon aus, dass die nächsten Senkungen im September und Dezember erfolgen werden.»

Daniel Hartmann, Chefvolkswirt Bantleon Bank: 

«Die EZB hat ihre Inflationsprognosen stärker angehoben als erwartet. Bei der Headline-Rate sind viele im Vorfeld von nahezu unveränderten Werten ausgegangen. Einen konkreten Hinweis auf die künftige Zinspolitik hat die EZB im Vorab-Statement noch nicht gegeben. Sie wird "datenabhängig" handeln und von "Sitzung zu Sitzung" entscheiden.»

Thomas Gitzel, Chefvolkswirt VP Bank:

«Die EZB spielt heute für die Finanzmärkte mit der geldpolitischen Polka auf. Es ist die erste Zinssenkung seit September 2019 und damit auch die erste nach den rekordschnellen Zinsanhebungen in den Jahren 2022 und 2023. Tatsächlich haben die europäischen Währungshüter Raum für geldpolitische Lockerungen. Zwar liegt die Inflationsrate mit aktuellen 2,6 Prozent noch nicht auf dem EZB-Zielniveau von zwei Prozent, doch andererseits gehören Inflationsniveaus von über zehn Prozent der Vergangenheit an. Da der Einlagensatz mit vier Prozent deutlich über Teuerungsrate liegt, kann die EZB zumindest etwas die Zinsen nach unten adjustieren. Zur geldpolitischen Choreografie mag hingegen wenig passen, dass mit der Leitzinssenkung gleichzeitig die Inflationsprognosen angehoben werden. Gerade deshalb sollte nicht davon ausgegangen werden, dass nun ein ausgeprägter Zinssenkungszyklus auf der Agenda steht. Vielmehr passt die EZB ihr Zinsniveau an das verglichen mit dem Jahr 2022 deutlich niedrigere Inflationsniveau an. Die für die europäischen Währungshüter sehr relevante Inflationskernrate lag zuletzt bei 2.9 Prozent. Gemessen daran, hätte die EZB auch auf ihren kommenden Sitzungen Spielraum für weitere Zinssenkungen. Solange die Leitzinsen über der Inflationsrate liegen, ist die EZB restriktiv. Auch wenn die EZB keine klaren Vorgaben zum zukünftigen geldpolitischen Kurs macht, sie wird weiterhin datenabhängig agieren, wird es voraussichtlich bereits im Juli zu einer weiteren Leitzinsreduktion um 25 Basispunkte kommen.»

Valentino Guggia, Ökonom Migrosbank: 

«Eine Verschiebung des Zinssenkungszyklus-Kickoffs auf Juli hätte für Verwirrung an den Finanzmärkten gesorgt, die die heutige Reduktion der Leitzinsen mit einer nahezu hundertprozentigen Wahrscheinlichkeit eingepreist hatten. Nicht zuletzt hätte dies auch der Glaubwürdigkeit der EZB geschadet, da sich ihre Präsidentin Christine Lagarde und weitere höhere Funktionäre zu sehr bezüglich des Zeitpunkts der Zinswende exponierten. Dennoch hätte es triftige Gründe gegeben, die eine Verschiebung um sechs Wochen gerechtfertigt hätten, um die jüngsten Entwicklungen besser einzuordnen. Im Mai stieg die Inflation in der Eurozone erstmalig im laufenden Jahr. Zwar war der Anstieg teilweise auf länderspezifische Basiseffekte zurückzuführen.»

Ed Hutchings, Leiter Zinsen bei Aviva Investors:

«Wie erwartet hat die EZB ordnungsgemäß eine Senkung um 0,25 Prozent vorgenommen. Die Stärke ihrer Vorabverpflichtung zu diesem Schritt hätte nicht viel größer sein können, doch seitdem haben die Daten etwas positiv überrascht. Das in letzter Zeit stärker als erwartete Lohnwachstum und die zähe Dienstleistungsinflation waren für die EZB alles andere als ideal, und die Inflationsprognosen wurden heute sogar angehoben! Dies war definitiv eine aggressive Senkung, in deren Folge die Renditen deutscher Bundesanleihen sofort etwas gestiegen sind und der Euro gestiegen ist. Es ist klar, dass der Kampf gegen die Inflation noch lange nicht vorbei ist, und es ist wahrscheinlich, dass die EZB auf absehbare Zeit etwas weniger voreilig in Bezug auf zukünftige Zinssenkungen bleibt.»

Friedrich Heinemann, ZEW Institut:

«Diese erste Zinssenkung war durch die EZB-Kommunikation exzellent vorbereitet und geldpolitisch gut begründbar. Negativ überrascht hat zuletzt allerdings die Hartnäckigkeit der Inflation. Sowohl bei den Löhnen als auch bei der Kerninflation liegen die Raten immer noch deutlich über der Zielmarke der EZB von zwei Prozent. Der EZB-Rat sollte sich jetzt mit vorschnellen Ankündigungen weiterer rascher Zinssenkungen zurückhalten. Sonst tappt er in eine kommunikative Falle, die er sich selbst stellt. Auch darf die EZB angesichts der zunehmenden Verschuldungsprobleme wichtiger Euro-Staaten und der jüngsten Herabstufung des Frankreich-Ratings nicht den Eindruck erwecken, dass ihr die Finanzierbarkeit der Staatsverschuldung wichtiger sei als die Preisstabilität. Aus heutiger Sicht sind daher ein bis zwei weitere Zinssenkungen das Maximum, was für dieses Jahr zu verantworten ist.»

Jörgen Krämer, Chefökonom Commerzbank:

«Ich halte es für verfrüht, dass die EZB bereits jetzt ihre Zinsen senkt. Leider hatte sie sich faktisch vorab auf diese Zinssenkung festgelegt, statt sich an den Daten zu orientieren, die in der Gesamtschau eine abwartende Haltung nahelegen. So steigen die Verbraucherpreise ohne die schwankungsanfälligen Preise für Energie und Nahrungsmittel seit Jahresanfang wieder stärker – und zwar mit einer aufs Jahr hochgerechneten Rate, die mit 3,5 Prozent deutlich über dem Inflationsziel der EZB liegt. Ausserdem ist noch immer kein Abwärtstrend bei den weiter stark steigenden Tariflöhnen zu erkennen. Darüber hinaus erholen sich die konjunkturellen Frühindikatoren, sodass die Unternehmen bald wieder über mehr Preissetzungsmacht verfügen könnten.»

Jörg Asmussen, Hauptgeschäftsführer Versicherer-Verband GDV:

«Der Zinsgipfel ist überschritten und mit der heutigen Zinssenkung hat die EZB den Abstieg begonnen. Er muss und wird länger dauern als der Weg bergauf, denn die Inflation geht nur langsam zurück. Preise für Dienstleistungen und vor allem die jüngsten Lohnentwicklungen bremsen den Inflationsrückgang spürbar aus. Vor weiteren Zinsschritten sind daher klare Daten nötig, die zeigen, dass der Preisdruck sich verlässlich und dauerhaft abschwächt. Bis dahin sollte die EZB die auch trotz der ersten Zinssenkung restriktive geldpolitische Orientierung beibehalten.»

(cash/Reuters)