Herr Bertschy, vor Handelsbeginn am vergangenen Donnerstag, als Nestlé die Quartalszahlen lieferte, setzten Sie ein Fragezeichen, ob der Lebensmittelkonzern den Tiefpunkt erreicht hat. Wie ist Ihre Einschätzung mit etwas Abstand zum Geschehen von letzter Woche?

Jean-Philippe Bertschy: Nestlés Performance der vergangenen Monate und Jahre war alles andere als gut. Problematisch war vor allem die Nichterreichung der finanziellen Ziele. Es ist jedoch davon auszugehen, dass weitere grössere negative Überraschungen nun ausbleiben werden. Nach der jüngsten Kommunikation haben wir eine klare Basis, worauf Nestlé aufbauen kann. Auch CEO Laurent Freixe zeigte sich entsprechend: er war sehr überzeugend und hat Vertrauen geweckt.

Inwieweit hat dieses Vertrauen in der jüngeren Vergangenheit gefehlt?

Die Nichterreichung der gesetzten finanziellen Ziele hat den grössten Schaden verursacht. Die negative Presse über das Wasser in Frankreich und die selbst verursachten Probleme in Nestlé Health Science in den USA haben ebenfalls zu einer Verschlechterung der Lage beigetragen. Die Botschaft war seitdem unhörbar geworden.

Inwiefern ist der revidierte Ausblick für das Gesamtjahr nun eine verlässliche Perspektive?

Die Revision des Ausblicks für das organische Wachstum von vier Prozent bis Juli auf rund zwei Prozent jetzt ist heftig. Sie bringt jedoch einen Realismus mit sich, der gut tut. Denn der Lebensmittelmarkt befindet sich in einem schwierigen Umfeld. Händler gehen mit Promotionen und Rabatten aggressiv voran und reduzieren ihre Lagerbestände. Darum sind zwei Prozent organisches Wachstum ein vernünftiges Ziel.

Nestlé baut die Konzernleitung um und teilt Weltregionen neu zu. Wie wird sich dies auf den Geschäftsgang und das Abscheiden an der Börse auswirken?

Die Neuorganisation ergibt in diesem Zusammenhang sehr viel Sinn. Laurent Freixe möchte die wichtigsten Manager am Hauptsitz in Vevey haben. Er will ein kleineres und agileres Team. So können Entscheidungen rascher gefällt werden. Freixe kann die Lage sehr gut einschätzen, da er die Zone Europa und dann Nordamerika vor einigen Jahren geführt hat. Das sind weiche Faktoren, die mit der Kultur der Führung zu tun haben.

Wie entscheidend sind diese weichen Faktoren? Man spricht ja oft von harten Zahlen wie dem organischen Wachstum.

Im Augenblick sind die weichen Faktoren am allerwichtigsten. Laurent Freixe muss das Vertrauen der Investoren zurückgewinnen. Speziell aber: Freixe ist seit 40 Jahren bei Nestlé. Er war in fast jeder Region aktiv, er kennt die Kunden und er kennt die Mitarbeiter sehr gut - und auch alle anderen Stakeholders von Nestlé.

Nestlé Health Science (NHS) ist in zurückliegenden Quartalen geschrumpft und jetzt wieder auf Wachstumskurs. Wie sehen Sie die Zukunft von NHS?

Der Geschäftsbereich befindet sich in einer Phase der Erholung, wobei in den kommenden Jahren ein nachhaltiges Wachstum erreicht werden muss. Eine weitere Priorität ist die Wiederherstellung der Rentabilität, die derzeit auf einem niedrigen Niveau liegt. Mit NHS verfügt Nestlé nun über ein bedeutendes Geschäft mit starken, führenden Marken. Die Umsetzung wird von entscheidender Bedeutung sein.

Auf Konsumentenseite hat ein stärkeres Gesundheitsbewusstsein eingesetzt, und im Pharmamarkt läuft ein Wettbewerb mit Fettsenkern, also GLP-1-Arzneien. Wie stark wirkt sich dies auf die Geschicke von Nestlé aus?

Einschliesslich Kaffee schätzen wir, dass die Nestlé-Produkte, die etwa 40 Prozent des Umsatzes ausmachen, zumindest mässig von der Verwendung von GLP-1 betroffen sein könnten. Wendet man dies auf den Umsatz in Nordamerika und Europa - 60 Prozent des Gesamtumsatzes - und dessen spezifische Aufteilung an, so ergibt sich ein Gruppenrisiko von rund 20 Prozent. Gemäss unserer Analyse schätzen wir einen möglichen jährlichen Gegenwind für das Konzernvolumen von zwischen 10 und 15 Basispunkten. GLP-1 könnte sich aber sogar als Opportunitäten erweisen.

Wie das?

Wenn Sie GLP-1-Medikamente nehmen, verlieren Sie auch an Muskelmasse. So erweitert sich der Markt für Nahrungsergänzungsmittel zum Muskelaufbau zum Beispiel.

Nestlés Verschuldung ist in den letzten Jahren gewachsen. Inwiefern gibt dies Anlass zur Sorge?

Die Nettoverschuldung liegt bei über 50 Milliarden Franken. Das ist verkraftbar, vor allem wenn wir den Stake von L’Oréal mit einem Marktwert von 40 Milliarden Franken und den jährlichen Free Cash Flow von zirka 10 Milliarden Franken betrachten. Das Unternehmen strebt einen Verschuldungsgrad von 2x bis 3x an, was derzeit der Fall ist.

Jean-Philippe Bertschy ist Ökonom sowie Managing Director und Analyst der Bank Vontobel. Er stuft den Lebensmittelkonzern Nestlé derzeit mit «Buy» und einem Kursziel von 100 Franken ein.

Reto Zanettin
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