Im Herbst 2022 machte OpenAI mit ChatGPT 3.5 erstmals ein generatives Modell der Künstlichen Intelligenz (KI) einem breiten Publikum zugänglich. Es konnte stereotype Redetexte, lustige Gedichte und brauchbare Textzusammenfassungen erstellen, produzierte aber auch noch viele Fehler und Ungenauigkeiten - sogenannte Halluzinationen. Ein Jahr später wurde die Version ChatGPT 4.0 veröffentlicht. Diese Version ist nicht nur präziser beim Zusammenfassen, Übersetzen, Erstellen und Formulieren von Texten, sondern ermöglicht auch die Recherche komplexer Sachverhalte.

Ein Blick auf die letzten 20 Jahre zeigt, wie stark Technologie Veränderungen herbeiführen kann. Im Juni 2003 waren unter den Top 10 des S&P 500 drei Tech-Unternehmen: Microsoft, IBM und Intel. Heute sind es deren acht: Microsoft, Apple, Nvidia, Amazon, Meta, Tesla, Alphabet und Broadcom. Damals hatte Amazon eine Marktkapitalisierung von 13 Milliarden Dollar, Nvidia 2 Milliarden Dollar, Alphabet hiess noch Google und war privat, Tesla stand kurz vor der Gründung und Meta war «Face Mash», das jugendliche «Hot-or-not»-Spiel von Mark Zuckerberg. 

«Auch auf die Gefahr hin, zu übertreiben, deuten die Durchbrüche der letzten zwei Jahre im Bereich der KI darauf hin, dass wir am Beginn eines neuen Computerparadigmas stehen könnten, das mit dem PC, dem Internet oder dem Smartphone vergleichbar ist», sagt Ben James, Investment Specialist Director bei der schottischen Investmentgesellschaft Baillie Gifford, im Gespräch mit cash.ch.

Gewinner und Verlierer

In technologischen Revolutionen stehen in der Geschichte den Gewinnern die Verlierer gegenüber. Und nicht jedes Unternehmen, das als erstes vom Boom profitiert, wird dies auch morgen tun. Grosse Technologiekonzerne haben dank ihres Know-hows und ihrer finanziellen Ressourcen einen Vorteil gegenüber kleineren Konkurrenten. Das galt auch für Yahoo, bis Google mit einem besseren Suchalgorithmus auftauchte und Yahoo verdrängte. KI ist eine Revolution, die grosse Spieler noch mächtiger machen kann, aber auch kleineren Disruptoren die Chance gibt, die Grossen zu schlagen. 

Der deutsche Vermögensverwalter Flossbach von Storch hat anhand von Beispielen im Kapitalmarktbericht zum ersten Halbjahr 2024 gezeigt, dass oft auch die vermeintlichen Disruptoren selbst Opfer von Disruption werden. So ist der bankrott-gegangene E-Autobauer Fisker ein vermeintlicher Disruptor, der durch Tesla disruptiert wurde. 

Vermeintliche Disruptoren Kursentwicklung seit dem Top Disruptiert durch   Vermeintliche Disruptoren Kursentwicklung seit Höhepunkt Disruptiert durch
Fisker -100 Prozent Tesla   Lemonade -89 Prozent

Allstate und andere

WeWork -100 Prozent

Homeoffice-Trend

  Just Eat Takeaway -88 Prozent McDonald's
Farfetch -100 Prozent

LVMH und andere

  Roku -87 Prozent Netflix
Context Logic -99 Prozent Amazon   Snap -86 Prozent Meta
Peloton -98 Prozent Planet Fitness   DocuSign -82 Prozent Adobe
Teladoc -98 Prozent

CVS Health und andere

  PayPal -77 Prozent Apple
Fastly -95 Prozent Akamai   Zalando -77 Prozent Amazon
Lucid -94 Prozent Tesla   Paycom -71 Prozent ADP
Upstart -90 Prozent FICO   Okta -66 Prozent Microsoft
Zoom Video -89 Prozent Microsoft   Robinhood -63 Prozent Charles Schwab

Kursquelle: Bloomberg.

«Einige Geschäftsmodelle, die heute noch als sicher gelten, könnten durch die rapide Weiterentwicklung und Verbreitung der KI in Zukunft geschwächt oder sogar ausgehöhlt werden», schreiben die Autoren von Flossbach von Storch. Um die Auswirkungen von KI zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, dass diese Systeme menschliche Intelligenz simulieren und Aufgaben wie Datenanalyse, Codierung oder sogar Musikkomposition ausführen.

Diese Fähigkeiten der KI repräsentieren intellektuelle Tätigkeiten, die traditionell von Menschen erledigt wurden. KI wird als «General Purpose Technology» betrachtet, da sie ähnlich wie Elektrizität oder Informatik alle Sektoren durchdringen und allgegenwärtig werden könnte. Unternehmen, die stark von menschlichen kognitiven Aufgaben abhängen, sind daher am anfälligsten für Disruption durch KI.

Fünf Erkenntnisse über KI für das Portfolio

Für Baillie Gifford stehen folgende fünf Erkenntnisse über KI bei der Suche nach einem guten Portfolio im Vordergrund: Erstens führt ein Überfluss an Software zu einer Entwertung, während kuratierte und proprietäre Daten an Wert gewinnen. Zweitens steigt das Vertrauen in «Menschlichkeit» und Verifizierung, ebenso wie der Wert der Hardware.

Drittens nimmt die Energieknappheit zu, und Unternehmen, die in physische Infrastruktur investieren, schaffen sich Wettbewerbsvorteile. Viertens besteht ein Fokus auf Kreativität und die Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen. Fünftens findet eine beschleunigte Cloud-Migration statt.

Nvidia geniesst beispielsweise enorme Vorteile, da sich die über Jahrzehnte für Computerspiele entwickelte Chiptechnologie ideal für KI-Berechnungen eignet. Rund 90 Prozent der generativen KI-Programme werden mit Nvidia-Chips trainiert. Seit Jahresbeginn steht der Titel 158 Prozent höher. Für das zweite Quartal, über das Ende August berichtet wird, erwartet Firmenchef Jen-Hsun Huang eine Umsatzverdopplung von 13,5 auf rund 28 Milliarden Dollar.

Hauptakteure wie OpenAI und Mistral, gefolgt von grossen Tech-Unternehmen (Google mit Gemini, Microsoft mit Copilot, Meta mit Llama), entwickeln Modelle und Algorithmen, die Innovation und Automatisierung in verschiedenen Branchen vorantreiben.

Kursentwicklung der Aktien von Nvidia.

«Der Energiebedarf von Rechenzentren wird aufgrund des höheren Energieverbrauchs von KI-Anwendungen viel höher sein als erwartet. Dies ist ein neuer Wachstumstreiber für die gesamte Energie-Wertschöpfungskette, einschliesslich energieeffizienter Technologien und Lösungen für erneuerbare Energien», schreibt Sanaa Hakim, Co-Portfolio-Managerin der Smart Energy Equities Strategie bei Robeco.

Die Anbieter von Stromnetzausrüstungen gehören zu den ersten Segmenten, die positiv beeinflusst werden, da die jährlichen Investitionen in Stromnetze zwischen bis 2032 um 8 Prozent (CAGR) steigen dürften. Innerhalb dieser Gruppe sind die Hersteller von Hochspannungskabeln laut Robeco eine der vielversprechendsten Branchen. Diese so genannten «Interkonnektoren» transportieren Strom über grosse Entfernungen mit minimalen Verlusten. Sie eignen sich auch besser für das Management von Energie aus verschiedenen Quellen, was dazu beiträgt, die Synchronität zwischen verschiedenen Netzen aufrechtzuerhalten.

«Neben dem ‹Hacke und Schaufel›-Hersteller Nvidia halten wir es für wichtig, dass sich Anleger in verschiedenen Unternehmen der KI-Wertschöpfungskette engagieren. Diese könnten am Ende einige der wahren Disruptoren sein», so James von Baillie Gifford.

Beispiel für die KI-Wertschöpfungskette

Hardware und Chips:
Nvidia: Führender Anbieter von Hardware für KI-Berechnungen.

Cloud und Plattformspeicher:
Amazon Web Services (AWS): Führt einen Grossteil der KI-Berechnungen durch und besitzt die physische Infrastruktur.

Cloud-Dienste und Unternehmenslösungen:
Cloudflare: Profitiert auf vielen Ebenen, insbesondere in puncto Sicherheit («Beweis der Menschlichkeit») und Edge Computing als mögliche Lösung für das „Speicherwand“-Problem.
Snowflake: Bietet Unternehmen hochwertige Datenqualität und -kuratierung.

Lösungen für die Industrie:
Tesla: Die autonome Software hat inzwischen 150 Millionen autonome Meilen zurückgelegt und verfügt über einen erheblichen Datenvorsprung gegenüber der restlichen Automobilindustrie.
Samsara: Ein IoT-Unternehmen, das Daten über die physischen Vermögenswerte seiner Kunden sammelt, in einer riesigen Datenwolke zusammenfasst und zur Effizienzsteigerung nutzt. Samsara bedient vornehmlich das Flottenmanagement, plant aber, alle physischen Vorgänge abzudecken, die 40 Prozent des US-BIP (circa 9 Billionen Dollar) ausmachen. Ein riesiger, unterversorgter Markt.

Dienstleistungen:
Duolingo, Doximity, Roblox: Diese Unternehmen nutzen KI, um menschliche Arbeitsabläufe, Prozesse und Erfahrungen zu optimieren.

Microsoft und Amazon profitieren von der Cloud-Durchdringung

Bildung und Ausbildung profitieren erheblich von KI. Beispiele sind Duolingo für das Sprachenlernen, Amira Learning zur Beschleunigung des Leseverständnisses junger Schüler sowie 360Learning und Skillsoft für unternehmensspezifische Schulungen. Auch Journalismus, Marketing und Kommunikation nutzen KI umfassend für Artikelerstellung, Quellverifizierung und Inhaltserstellung, was zu einer Abwertung dieser Dienstleistungen führt.

In der Finanzbranche bieten spezialisierte Tools wie Shift Technology zur Betrugserkennung in Versicherungen umfassende externe Dienste an. Automatisierte Handelsroboter sind im Trading seit Jahren etabliert. Im Gesundheitswesen sind laut Jean Meneveau, Managing Partner bei Colombus Consulting, zahlreiche Werkzeuge für die medizinische Diagnostik, Bewertung, chirurgische Eingriffe oder Pflege auf dem Markt: Medtronic zur Erkennung von Krebspolypen durch Analyse von Koloskopiebildern, ContextVision zur Verbesserung der Qualität medizinischer Bilder und Unterstützung bei Diagnosen, Owkin zur Analyse medizinischer Daten und Identifizierung der ersten Anzeichen von Krankheiten, insbesondere Krebs, oder ThinkSono zur Diagnose tiefer Venenthrombosen.

«Die jüngsten Entwicklungen im Bereich der KI bieten aus unserer Sicht erhebliche Chancen zur Wertschöpfung. Sie ergänzen die bereits bestehenden Trends der Wirtschaftsdigitalisierung und Cloud-Migration, die auch unabhängig von KI hervorragende Aussichten haben», sagt Humberto Nardiello, Fundamental Equity Fund Manager bei DPAM. Derzeit wird die Cloud-Durchdringung auf 30-40 Prozent des IT-Workloads geschätzt.

Da die Cloud kostengünstiger und flexibler ist, erwartet Nardiello, dass viele weitere Unternehmen in die Cloud wechseln werden, insbesondere wenn KI zum Einsatz kommt. Verschiedene Branchenexperimente zeigen, dass KI die Softwareentwicklung um 50 Prozent beschleunigen kann. Amazon und Microsoft, die führenden Cloud-Anbieter, werden am meisten von diesem beschleunigten und verlängerten Wachstum der Datenverarbeitung profitieren.

Mit Blick auf KI hat diese Technologie das Potenzial, im gesamten Microsoft-Portfolio erhebliche zusätzliche Gewinne zu erwirtschaften, auch wenn die Ergebnisse derzeit uneinheitlich sind. Das Management glaubt, dass KI «das am schnellsten wachsende 10-Milliarden-Dollar-Geschäft in der Geschichte des Unternehmens» sein wird. Und angesichts der Amazon-Kultur, kontinuierlich ins Unternehmen zu reinvestieren, um das Wachstum weiter zu beschleunigen, erwartet DPAM, dass ein Teil der höheren Rentabilität durch KI in die weitere Marktdurchdringung im Bereich E-Commerce fliessen wird.

Klare Verlierer

Es gibt auch bereits Unternehmen und Branchen, die klar unter dem Einfluss von KI leiden. In erster Linie betrifft dies Geschäftsbereiche, die mit der Auslagerung trivialer und sich wiederholender Aufgaben befasst sind und nun durch Software ersetzt werden können. Beispiele hierfür sind Unternehmen wie Teleperformance, Keywords Studios und RWS, die in den letzten 18 Monaten einen drastischen Kursverfall erlebt haben.

Mit Blick auf die Zukunft scheint sich der Softwaresektor nicht stark vom allgemeinen Markt abgekoppelt zu haben. Doch wenn Allzweck-Chatbots in der Lage sein werden, komplexe, mehrstufige Aufgaben zu bewältigen und Probleme zu lösen, könnte sich die Art und Weise, wie Aufgaben erledigt werden und wie Mitarbeitende mit Software interagieren, grundlegend verändern. Unternehmen, deren wichtigster Wettbewerbsvorteil ihre Schnittstelle ist, könnten vor Herausforderungen stehen. Darüber hinaus könnten Unternehmen, die auf Basis von Lizenzen abrechnen, in Bedrängnis geraten, da ihre Kunden möglicherweise weniger Mitarbeitende und entsprechend weniger Lizenzen benötigen, weil sie mit KI produktiver sein können.

Ein Softwareunternehmen, das tief in die Datenstrukturarchitektur integriert ist und weniger von der Benutzeroberfläche abhängig ist, sollte gut geschützt sein. «Obwohl wir uns der oben genannten Herausforderungen bei der Umsetzung von Software bewusst sind, glauben wir, dass die etablierten ‹Plattform›-Anbieter unter diesen Softwareunternehmen - denken Sie an ServiceNow, Salesforce oder Intuit - zu eindeutigen Nutzniessern von generativer KI werden könnten», so Nardiello. Denn ihre Kunden bauen zunehmend unternehmensspezifische Datensätze auf den Plattformen auf, um mit generativer KI den nächsten Produktivitätssprung zu realisieren.

Bestäubung durch KI-Bienen

Eine Schwierigkeit für Anlegerinnen und Anleger besteht auch darin, dass es oft die kreativsten und fantasievollsten Anwendungen von KI sind, die laut Karen Kharmandarian, CIO und Vorsitzender bei Thematics AM - Tochtergesellschaft von Natixis Investment Management -, Schlagzeilen machen, wie das Potenzial der generativen KI, personalisierte Filme zu erstellen, bei denen das Publikum seine eigenen Schauspieler auswählen oder sich sogar selbst in die Handlung einfügen kann, oder KI-gestützte robotische Bienen, die die Bestäubung und die Entwicklung von Nutzpflanzen unterstützen könnten, um den Biodiversitätsverlust vor dem Hintergrund schwindender Honigbienenpopulationen zu stoppen. 

Doch hinter den Schlagzeilen wird KI auch in Bereichen wie der Arzneimittelentwicklung und dem Chipdesign eingesetzt. Die AlphaFold-KI-Technologie von Google DeepMind beispielsweise wurde von einem Gemeinschaftsforum von Wissenschaftlern als Lösung für ein 50 Jahre altes biologisches Problem anerkannt.

«Anstatt von Disruption zu sprechen, bei der ganze Sektoren durch neue Akteure zusammenbrechen betrachten wir eher eine ‹Steigerung› der Unternehmen und ihrer Kompetenzen», so Meneveau gegenüber cash.ch. Mit anderen Worten: KI soll Probleme lösen, Aktivitäten effizienter verwalten oder automatisieren und die Kompetenzen der Mitarbeiter erhöhen. Sie lässt sich auch einfacher und schneller umsetzen, wenn ausreichend Daten vorhanden sind, was den Unternehmen, die sie anwenden, einen deutlichen Wettbewerbsvorteil verschaffen kann.

Dies muss aber nicht immer gelingen, wie auch folgende Beispiele zeigen: Das KI-Computerprogramm Watson von IBM konnte die grossen Visionen nicht erfüllen, sodass die New York Times im Sommer 2021 den Artikel «Was ist aus IBMs Watson geworden?» veröffentlichte. Der industrielle Roboter Baxter, der die Fertigung revolutionieren sollte, wurde 2018 wegen enttäuschender Verkaufszahlen eingestellt. Trotz zweistelliger Millionen an autonomen Meilen operiert das fahrerlose Auto von Google fast ein Jahrzehnt später immer noch nur in zwei US-Städten.

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